Jahresrückblick 2019 – Top 20 12inches

02.12.2019
Dance Music dominiert bei den Vinyl 12"s des Jahres 2019. Aber das ist doch nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Denn diese Auswahl zeigt: alles ist erlaubt auf dem Dancefloor und muss es ogar sein.
2019 geht auch ein Jahrzehnt zuende und es war die Dekade, in der das Album langsam abgelöst wurde. Oder besser noch aufgelöst, im Stream zumindest, wie eine Brausetablette in Selters. Die 12"-Single gewann die Überhand und das ist doch schwer in Ordnung, wenn wir mal einen Blick über die zwanzig besten Schallplatten aus dem EP-Sortiment – zugegeben, eine 7″ haben wir mit reingeschmuggelt – werfen. Klar: Dance Music dominiert. Aber das ist doch nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Afrodeutsche, DJ Haram, Kali Malone und Acronym, Lanark Artefax, Mari Sekine und Lena Willikens, Mary Yalex, upsammy – diese und noch andere Produzent:innen beweisen, dass 2019 endgültig einen Wasserscheidenmoment auf dem Dancefloor markierte: the weird turn pro, alles ist erlaubt und muss es sogar sein. Und die Unterhaltung kommt dabei dank Erobique ebenso wenig zu kurz wie Verbeugungen Richtung Vergangenheit. Hier zeigt sich Mick Harris alias Scorn als weiterhin verlässliche Bank, dort wird Electro-Orientalismus aus den Achtzigern und hier libanesischer Disco aus den Siebzigern neu gehuldigt. Wenn 2019 dann doch nicht so ein starkes Albumjahr geworden wäre, wir hätten fast komplett mit unseren 12"s vorlieb genommen. Solange gilt dann auch fürs dritte Jahrzehnt dieses Jahrtausends: Die Mischung macht’s!


Acronym & Kali Malone
The Torrid Eye
Stilla Ton • 2019 • ab 10.99€
Kali Malone räumt mit Modular-Synthesizer und Orgel gerade alles ab, was sich nur abräumen lässt und macht jetzt auch noch… Techno? Ja, genau. Ihre Kollaboration mit Acronym für dessen Label Stilla Ton kam ebenso unerwartet wie die Musik erfreulich unprätentiös klang. Intensiver Waber-Ambient, oneirisches Dub Techno, Patina-behaftete House-Grooves, dräuender Industrial Techno mit Dark-Ambient-Finish: »The Torrid Eye« ist eine monolithische Platte und dennoch nach allen Seiten offen. Kristoffer Cornils

Afrodeutsche
RR001 EP
River Rapid • 2019 • ab 12.99€
Henrietta Smith-Rolla alias Afrodeutsche hat dieses Jahr mit ihrem Debütalbum »Break Before Make« schon einen großen Aufschlag gemacht. Ihre erste EP »RR001« bot dann anschließend ihre Vorzüge kompakt auf vier Titel mit neuem Material verteilt. Techno, der viel von der Drexciya-Electro-Schule gelernt hat, zugleich aber durch die Erfahrung von Bassmusik einen sehr eigenen Dreh findet, um sich bei allem Traditionssinn als gegenwärtig zu behaupten. Hören und tanzen. Tim Caspar Boehme

Christoph De Babalon
Hectic Shakes
Alter • 2018 • ab 10.99€
Subbässe knöpfen sich die Digital Hardcore-Epigonen vor, Hi-Hats salutieren am Metalheadz-Verteilerkreis, die Hallfahnen schicken uns auf den Seitenstraßen-Trip – wenn Christoph de Babalon seinen Geräteschuppen anwirft, kämpfen Gespenster mit Laserschwertern gegen die Gefahren der Dunkelheit aka Trends und Konventionen. Und weil die leuchtenden Dinger mit Akkus laufen, funzt das auf »Hectic Shakes« geschmiert wie 1997. Christoph Benkeser

Client_03
Hope Repeater
Astrophonica • 2019 • ab 9.99€
Manchmal ist Clubmusik auch einfach Handwerk. Client_03 tut auf »Hope Repeater« nichts, aber auch wirklich gar nichts, was man in ähnlicher Form so nicht auch schon aus Detroit, Berlin oder Den Haag gehört hätte, eine klassische Electro-EP zu machen, auf der aber jedes Stück auf jedem Tempo in jedem Kontext zündet, das gelingt nur jedes Schaltjahr ein Mal. Florian Aigner

DJ Haram
Grace EP
Hyperdub • 2019 • ab 11.99€
Musik ist des Teufels. Für Islamisten jedenfalls. Und so gibt sich DJ Haram aus Philadelphia gleich im Namen als unrein zu erkennen. Macht kaputten Global Beat, der in seinem Aufeinanderprallen von bekifften Flöten, grimmiger nordafrikanischer Perkussion, verzerrten Synthie-Akkorden und unheilschwangerem Bass schon mal gar keine Gemütlichkeit im Club aufkommen lässt. Wenn es ernst wird, knallen sogar Schüsse. Musik, die alle Schutzsuchenden auf der Tanzfläche zusammentreibt. Tim Caspar Boehme

DJ Spinn
Da Life EP
Hyperdub • 2019 • ab 17.99€
Dass man Musik weiß Gott nicht bloß zum Entspannen braucht, bringt Footwork derzeit immer noch am Charmantesten auf den Punkt. Bei DJ Spinn mit diesem hypernervös flirrenden Beat, ohne übermäßig viel Albernheit, gut, mit ein klein bisschen schon, doch die lenkt nicht vom Tanzen ab. Hauptsache, man schafft es dabei, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Tim Caspar Boehme

Erobique
Urlaub In Italien
a sexy • 2019 • ab 13.99€
Es gibt nur einen geilen Alleinunterhalter auf dieser Welt und dass er mit seinem Genie so scheiße geizig ist, muss ihm hoch angerechnet werden. »Urlaub in Italien« und »Eine Überdosis Freude« sind seit ungefähr zwölf Jahrzehnten Standards in den Live-Sets von Erobique auf Platte wurden sie dennoch erst dieses Jahr gepresst – und zwar als Konzertmitschnitte, weil so eine Studioversion nicht ausreichend zum Mitgrölen animieren würde. Mille grazie ugualmente, Carsten! Kristoffer Cornils

Grebenstein & Seefried
Raging Tender
Downwards • 2019 • ab 12.99€
Schwer zu glauben, dass »Raging Tender« die gemeinsame Debüt-EP von Christine Seefried und Jan Grebenstein sein soll. Die 21 Minuten sind so routiniert und raffiniert runtergespielt: »”Drums, one synthesizer, voice—very intuitive”: http://www.self-titledmag.com/grebenstein-seefried-raging-tender-ep/. The words being written while the drums are made and cigarettes being smoked«. Kann mich an keine zweite Schallplatte in diesem Jahr erinnern, an dem die Sound so präzise auf den Punkt kommen oder präzise auf den Punkt eben nicht kommen. Sebastian Hinz

Joy O
Slipping
Hinge Finger • 2019 • ab 14.99€
Muss ja nicht immer knallen, muss ja nicht immer für den Club sein. Joy Orbison taumelt mit »Slipping« im K-Hole, snifft sich durch Bonobo-Material und leckt den letzten Tropfen Lean aus der Sprite. Fair enough, der Typ produziert »Slipping« für Installationsräume, wo geile Typen mit Undercut und Turtle Neck über die Auslegung von Foucaults Biomacht diskutieren. Das Ticket für die Distinktionsbolzen auf der nächsten Berlin Atonal hat O’Grady damit in der Tasche. Christoph Benkeser

Lanark Artefax
Corra Linn
Numbers • 2019 • ab 12.99€
Besser spät als nie: Zwei Jahre, nachdem seine EP für Whities selbst den hängengebliebensten Aphex-Twin-Fans bewies, dass auch außerhalb des Warp-Kontinuums noch splitterige Frickelmusik auf Hochleistungsniveau produziert wird, untermauerte Lanark Artefax kurz vor Jahresende seinen Status als Wunderkind der neuen Braindance-Bewegung, die naturgemäß nur schwerlich von der Couch hochkommt. »Corra Linn« bewarb sich mit Klimperklavier sogar als »Avril 14«-Nachfolger. Riecht epigonal, ist vor allem aber aufregend, neu und erfrischend. Kristoffer Cornils

Macker
Faust / Isolation
Macker • 2019 • ab 10.99€
Macker ist nicht Loefah, aber wäre Macker Loefah, hätte Loefah seine beste Single seit 12 Jahren veröffentlicht. Im Nachhinein ist aus dieser ersten goldenen Dubstep-Ära fairerweise nicht unbedingt die Basswand gut gealtert, sondern die rhythmische Schärfe und das Spiel mit den Zwischenräumen, wenn man Jungle und Drum & Bass ausbremst und im Halftime Swing plötzlich genug Zeit hat urbane Abgründe mitzudenken. Dass die Tracks dann auch noch »Faust« und »Isolation« heißen, ist hierbei nur noch der Wink mit dem Zaunpfahl. Florian Aigner

Mari Sekine
Beginning / Lena Willikens Remix
EM • 2018 • ab 12.59€
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Mari Sekine sich auf »Beginning« mit großer Verspätung in die Tradition von Midori Takada und anderem Frühachtziger-Ethno-Minimalismus einreiht. Schlimm ist das indes auf keinen Fall. Neben dem hörspielartigen Titeltrack ist es vor allem Lena Willikens’ Drum-Circle-Remix für die Salon- und Sameheads-Cliquen, der die unwahrscheinliche Dancefloor-Tauglichkeit von Sekines Ansatz herausarbeitete. Wie du sie drehst oder wendest: diese ist eine besondere Platte. Kristoffer Cornils

Mary Yalex
Remember When
Dichotomy • 2019 • ab 11.99€
Wie eine Listening Session als Unterwassersafari auf Keta ist die Musik von Mary Yalex. Zumindest kann man sich das Blubbern von Luftblasen zwischen Korallenriffen und Mantarochen vorstellen, während die 808 konzentrische Kreise ins Meer pumpt. Später fegt uns eine frische Brise durchs Haar, wir süffeln Mai Tais aus Flamingo-Strohhalmen und legen die Platte am Sonnendeck nochmal auf. »Remember When« we were young and strong and beautiful? Christoph Benkeser

Michailo & Irakli
Release
Intergalactic Research Institute For Sound • 2019 • ab 12.99€
Am 22. Oktober dieses Jahres war für den georgischen Produzent Michailo der Moment gekommen, dessen Titel seine gemeinsame EP mit dem in Berlin lebenden Produzenten Irakli sehnsüchtig herbeiträumte: »Release«, die Freilassung. Nachdem er sechs Jahre wegen eines Drogendelikts einsaß, der deutschen Behörden nicht einmal Notiz wert gewesen wäre, gab es also Grund zum Feiern. Umso mehr natürlich, weil die vier gravitätischen Leftfield-Techno-Tracks hoffentlich den Grundstein für eine ihm zuvor weitgehend verwehrte Karriere legen. Kristoffer Cornils

Odd Okoddo
Okitwoye
Pingipung • 2019 • ab 9.99€
Auf Sven Kacirek ist Verlass. Das nicht allein als Solo-Musiker, sondern auch als unermüdlicher Prediger eines transkulturellen Austauschs, der ohne kolonialen Ballast daherkommt. Den schüttelt sein gemeinsames Projekt mit dem kenianischen Sänger und Musiker Olith Ratego, Odd Okoddo sowieso mit Leichtigkeit ab. »Okitwoye« war der erste Vorgeschmack auf ihr gemeinsames Album »Auma« und ist ein strahlender Hit, der Rategos Dodo Blues mit Sven Kacireks Verständnis von Rhythmus und Raum nahtlos zusammendenkt und auf der B sogar noch für die Open-Air-Saison zurechtgestutzt wurde. Kristoffer Cornils

Overmono
Poly011
Poly Kicks • 2019 • ab 11.99€
Unter Brüdern gehen die Dinge ja oft leichter von der Hand. Ed Russel (Tessela) und Tom Russel (Truss) sind Brüder und die beiden gemeinsame als Overmono entstandenen Stücke auf »Poly011« sind die lockerst aus dem Ärmel geschüttelten Dancetracks des Jahres. Electro bis auf 140 BPM gepitcht, Breakbeat rein, Breakbeat raus, ambiente Flächen, Rave-Akkorde, Filter off/on, Drum’n’Bass, IDM, Vocal-Samples, »los Bruder, lass mal machen«, lieber den Spatz aufm Cover als die Taube aufm Dach, also alles rein, schütteln, wirken lassen, feiern. Sebastian Hinz

Scorn
Feather
Ohm Resistance • 2019 • ab 16.99€
Wer abends vor lauter Unruhe nicht einschlafen kann, legt sich jetzt Scorns neue Gewichtsdecke »Feather EP« aufs Gesicht. Und lässt sich sanft von 5 Tonnen ökologischer Glaskugeln das Cerebellum weich drücken. Nach jahrelangem Hiatus aufgrund von Depressionen kehrt Mick Harris gewohnt düster mit Gravitationswellen vom Event Horizon zurück und lässt zwischen seinem spartanischen brachialen Rhythmusgerüst sogar so etwas wie Klangflächen durchschimmern. Jens Pacholsky

Üdytü Ützeltürk & His Male Harem
Kairo / Kozak2000
Running Back • 1984 • ab 8.99€
Als wäre die große musikalische Rückschau auf den Hamburger Club Front durch seine Residents Klaus Stockhausen und Boris Dlugosch auf Running Back nicht an sich schon aufsehenerregend genug gewesen, rief sie der Welt zudem noch »Kairo« in Erinnerung. Über den Produzenten hinter dem orientalistischen Pseudonym Üdytü Ützeltürk And His Male Harem ist kaum etwas herauszufinden, die Fragwürdigkeit des Adhan-Einsatzes bleibt aber weiterhin unbestritten. Dank Dlugosch-Edit lässt sich diese Proto-House-Perle jedoch zum Glück spielen, ohne gleich ein Dax-J-Debakel loszutreten. Kristoffer Cornils

Upsammy
Branches On Ice
Die Orakel • 2019 • ab 11.99€
Es braucht nicht immer Conceptronica, um im Club für Überraschung zu sorgen. Mitunter reicht ein verschrobener Blick auf die Zutaten von Techno, um, wie bei Upsammy eine Traumatmosphäre zu zaubern, bei der man sich unversehens im Freien auf fremdem Gelände findet. Seltsame Wesen huschen vorbei, es knackt im Unterholz, doch bei der niederländischen Produzentin droht keine Gefahr. Höchstens die, dass man beginnt, mit Tanzflächenroutinen zu fremdeln. Tim Caspar Boehme

Ziad Rahbani
Abu Ali
Wewantsounds • 1978 • ab 31.99€
Wer sich morgens schon Humus auf den Vollkorntoast schmiert, muss diese Platte probieren. Alles an den 13 Minuten und zwölf Sekunden auf »Abu Ali« von Ziad Rahbani schreit nach Groove, Groove und nochmals Groove. Könnte man sich in diesen wabernden Koloss aus der libanesischen Counterculture der Siebziger einlegen, man würde keine Sekunde zögern. Christoph Benkeser