Wer bislang weiterhin am Kalenderspruch »schlimmer kann’s nicht werden« festgehalten hat, muss das Blatt wohl endgültig abreißen. Nichts wird besser, aber alles teurer. Blenden wir das mal kurz aus und werfen das Spotlight auf die einzig gute Sache dieser Welt: Musik. Auch die wird teurer, obwohl die Leute weniger dran verdienen, doch ist sie eben auch wertvoller denn je zuvor. Denn die folgenden 50 Schallplatten kommen von Menschen, die sich weigern, aufzugeben.
Ob sie sich nun Armand Hammer nennen oder als billy woods & Kenny Segal gemeinsame Sache machen, als Little Simz, MC Yallah oder Yungwebster: Während in diesem Jahr die Fachpresse Hip-Hop endgültig ins Boomer-Dasein verabschiedete (50 Jahre hier, 50 Jahre dort), geht anderswo die Sache weiter – und zwar gehörig nach vorne. Im Club dasselbe Bild, denn statt Hard-Trance-Edits oder Hardgroove-Nostalgie kamen von unter anderem DJ Balduin, DJ Danifox, Irakli, Overmono, Tzusing und upsammy echt innovative Impulse. Und wenn Isolée zurückkehrt und einfach nach Isolée klingt, ist das sowieso ein Gewinn.
Und dieses diffuse Ding namens Pop? Anohni ist sowas von back, Leute, und hat die Johnsons im Gepäck. Daniel Blumberg macht den Song kaputt. Güner Künier und Pose Dia holen Wave aus dem Kartoffelkeller und Loraine James macht Musik, die irgendwie wirkt wie Pop und deren Wirkweisen sich doch aus ganz anderen Traditionen herschreiben. Ähnlich im Jazz oder was auch immer im Jahr 2023 drunter lief: Impulse!-Hoffnungsträger:innen heißen heutzutage Brandee Younger und träumen vom »Brand New Life«, während eine Sängerin wie Enji in »Ulaan« ein neues beginnt. Und ey, Irreversible Entanglements!
Alten Traditionen neues Leben einzuhauchen, stand auch auf der Agenda von beispielsweise Matana Roberts oder Niecy Blues, die Gegenwart in die Länge zogen unter anderem Ellen Arkbro, Kali Malone und Mary Jane Leach mit jeweils unterschiedlichen, im Kern aber geistesverwandten Mitteln. Und es gab noch mehr, das auf weirde Zeiten mit angemessen sonderbarer Musik reagieren und sie perfekt ins Albumformat übertragen konnten. Danke dafür, es tat wirklich Not. Kristoffer Cornils
Ich höre »Another World« nur alle drei Jahre, dann aber 30-mal am Stück, mit feuchten Augen und vollem existentialistischem Übercommitment. Dass Anohni nach 13 Jahren wieder ein Album mit den Johnsons aufgenommen hat, löste zunächst eine weitere »Another World« Woche aus, bevor ich mich wirklich »My Back Was A Bridge For You To Cross« widmen konnte. Die angekündigten Blue Eyed Soul-Tropen sind hier, trotz der einschlägigen Credits von Produzent Jimmy Hogarth, eleganter und rockiger als auf vergleichbaren Throwback Alben und geben Anohnis Organ genug Raum für genau jenes Pathos, das sie selbst in avantgardistischeren Kontexten schon immer ausgezeichnet hat. Niederschmetternd ist das auch in den vermeintlich gelösteren Momenten, aber es gibt auch einfach niemanden, der in diesem Jahrtausend so viele potentielle Funeral-Songs geschrieben hat wie Anohni.
Florian Aigner Zur ReviewHypnotisch, schwerelos, intim und brachial: Auf »We Buy Diabetic Test Strips« zerfetzen Armand Hammer die Welt und flicken sie neu zusammen. Aus einem dutzend Produzenten, Musikern und Features schnüren die beiden ein Bündel, das quer in ihrem Katalog steht. Woods ‘Stoffe sind haarscharfe Analysen historischer, systemischer und metaphysischer Abgründe, in die ELUCID Einzelschicksale und existentielle Introspektion einwebt. »WBDTS« ist ein weitläufiges und engmaschiges Geflecht geworden, das an allen Enden ausfranst.
Pasqual SolaßKeine Bestenliste ohne International Anthem, das Chicagoer Label bleibt die Anlaufstelle für das Beste, was Jazz in der Gegenwart zu bieten hat. Asher Gamedzes zweites Album, »Turbulence And Pulse«, gehört da zweifelsohne dazu. Dieser spirituelle Jazz kommt spürbar aus Südafrika, der Staub ist hier einfach anders eingefärbt. Überragend dabei nicht nur Gamedzes Arbeit an den Trommeln, auch die anderen Musiker spielen in einer Liga mit den ganz Großen – göttlich zum Beispiel Buddy Wells am Saxophon.
Pippo KuhzartAlles von Valentina Magaletti ist erstmal toll, weshalb jedes Jahr mit Valentina Magaletti toll ist und in 2023 gab es sehr viel Valentina Magaletti. Neben vielen tollen Solo-Alben und Releases von CZN, Holy Tongue, V/Z und Vanishing Twin war ihr zweites Album mit Matthew Simms und Sarah Register als Better Corners das tollste. Die Taj-Mahal-Travellers-Variante von Horror-Ambient mit Basinski-Vibes und Freak-Out-Industrial, ein psychonautischer Trip durch den Raum: Besser ging es eigentlich kaum, besser wird es bestimmt aber noch werden. Solange bleibt »Continuous Miracles Vol. 2« ein Karriere-Highlight.
Kristoffer Cornils Zur ReviewWar 2023 International Anthems stärkstes Jahr? Asher Gamedze, Carlos Niño, Jamie Branch, Angel Bat Dawid: Sollte jemand die Aufgabe haben, den aktuellen state of Jazz vorzustellen, der suche nicht weiter. Bex Burch’ »There Is Only Love and Fear« ist der Release aus der Reihe, der am schwersten in zwei Sätzen zusammenzufassen ist. Hier stecken alle Gefühle und alle Instrumente drin, auf großen Sanftmut kann im nächsten Song die große Aufbrausung folgen. Ambientes Geklimper geht ebenso wie einfachster Bounce. Dieser Release hat Chicagos Jazz-Lehre verinnerlicht und verströmt ihn jedem einzelnen Anschlag. Ein Fest.
Pippo Kuhzart Zur ReviewDie Welt hat es endlich begriffen, billy woods ist momentan der beste MC, den der US-Underground zu bieten hat. Erstaunlich, bei der Komplexität seiner Lyrics, lange gedauert hat es allemal. Auf »Aethiopes« hat er uns ins Zimbabwe seiner Kindheit mitgenommen, auf »Church« in die Zeit seiner Jugend, kurz bevor er Rapper wurde, und nun ist er auf »Maps« in der Gegenwart angekommen — oder nicht, weil er hier auf Tour ist, die Zeit an Flughäfen oder in überteuerten Ubers verbringt. Im dröhnenden Nebel von Kenny Segals Beats gehen ihm aber massig Lichter auf: »Poisoned everything we touched, withered and died // Burn it down with us inside.«
Pasqual Solaß Zur ReviewDorothy Ashby? Unbekannt? Macht nichts. Die Kompositionen der Harfenistin des Modern Jazz stellen gut die Hälfte des Programms, das ihre Kollegin Brandee Younger jetzt auf ihrem zweiten Album für Impulse! zusammengestellt hat. Macht neugierig auf Youngers Inspiration. Doch bevor man losrennt, um die alten Platten zu suchen, schadet es nicht, vorher die um R&B- und HipHop-Anteile ergänzte Version des Harfenjazz auf »Brand New Life« zu erkunden. Vor allem impressionistisch kann Younger auf wunderbare Weise – ohne einem ihre virtuosen Fertigkeiten um die Ohren zu hauen.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewÜber drei Solo-Alben hinweg hat Daniel Blumberg viele kaputte Songs geschrieben, mit seinem vierten aber sein Songwriting an sich zerstört. »GUT« ist ein körperliches Album, auf dem Musik zum Fremdkörper wird. Blumberg singt zwar noch seine Refrains, während es im Hintergrund dröhnt und kracht. Doch klingt das fast pflichtschuldig – insbesondere dann, wenn er sich am Ende selbst daran erinnern, seinen eigentlichen Job zu machen: »Daniel, keep on singing!«. Ob er’s tun wird, wird sich mit der nächsten Platte zeigen. Solange bleibt »GUT« sein radikalstes Album.
Kristoffer CornilsWer DJ Balduin verstehen möchte, muss im Katalog seines Labels GLYK diggen. La-Monte-Young-Adaptionen für den Dancefloor, kosmischer Lo-Fi-Wave, Electro: Die Zusammenhänge sind nicht offensichtlich und doch nachvollziehbar. So auch auf »Concrete Mimosa«. Luftige Breakbeats mit Scratching und Pop-Vocal-Schnipseln, slicker IDM-Techno mit bratzigen Bässen, Balearic-Abstraktionen mit Sprachkurs-Samples, Traumprinz-Momente mit Omar-S-Bässen, Gniedel-Synths auf satten Pads und Ambient-Drone – in diesem Album scheint alles drin zu stecken, deswegen klingt es wie nichts zuvor.
Kristoffer Cornils Zur ReviewNeues von Tia Maria Produções treibt meinen Puls immer schon ungehört in den dreistelligen Bereich, »Ansiedade« ist mit seinem - wie immer auf Príncipe - unvergleichbaren Drumprogramming und diesen melancholischen Synths dann direkt wieder ein kammerflimmerndes Album, das trotz seiner nervösen Energie eine fast jazzige Emotionalität als Leitmotiv wählt.
Florian AignerEin freundliches Biest. Der ägyptische Keyboarder Maurice Louca hat mit seiner Band Elephantine ein solches Wesen geschaffen. »Moonshine« ist im Kollektiv entstanden, schlägt er mit seinen Kollegen auf diesem Album einen Weg ein, der dazu angetan ist, ihm Ruhm und Ehre einzubringen. Nordafrikanische Traditionen, Minimalismus und musikalischer Vorwärtsdrall schaffen eine locker groovende Trance, deren Kraft wie ein Vektor gerichtet scheint und einen mit sich zieht, ganz ohne Gewalt. Körper und Verstand gefällt das.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewDie Orgel-drones der La Monte Young-Schülerin Ellen Arkbro rauschen wie ein unendlich weiter Fluss durch den Äther, ihre Akkordwellen reissen die Ohren mit, und, hin und her gewogen, zerfliessen auch sie bald im gewaltigen Strom. Kali Malone und Arkbro, die beide kollaborativ auf dem schwedischen Label »XKatedral« komponiert haben (unter anderem mit Caterina Barbieri), sind die Organistinnen der Stunde und transformieren den alten Platzhirsch der Kirchenmusik zu einem Instrument super-sakraler Meditation.
Pasqual Solaß Zur ReviewIst es Folk, ist es Jazz, ist es einfach das intimste Jazzalbum des Jahres 2023? Für »Ulaan« hat die mongolische Sängerin Enji ihr Trio mit dem Gitarristen Paul Brändle und dem Bassisten Munguntovch Tsolmonbayar um die beiden Brasilianerinnen Joana Queiroz (Klarinette) und Mariá Portugal (Schlagzeug) erweitert. Enji kann alles mit ihrer Stimme, kann magische Beschwörung sein, der Flügelschlag einer Libelle, der Nebel, der sich in den Winkeln des Altaigebirges verzieht. Dieses Ensemble hilft ihr dabei und entführt uns in völlig unbekannte Winkel.
Sebastian HinzMit dem albumeinführenden Track »The Piano Vandals« schafft Fabio Monesi eine einzigartige Klanglandschaft, in der die kraftvollen Töne des Pianos nahtlos mit elektronischen Beats verschmelzen. »Harmony« hingegen ist mal groovy und housy und mal abgespaced und düster. Ladies and Gentlemen, yes they're here, the dream team is here - mit »Moonriver (vocal mix)« präsentiert der Künstler poppige Vocals, einen voranpreitschenden Beat und viel Ohrwurmpotential auf einem Silbertablett.
Franziska NistlerFiesta En El Vacío legte dieses Jahr gleich zwei Bubble-beachtete Alben vor. »ROSAL« steht hier stellvertretend für eine der einnehmensten Neuentdeckungen des Jahres. Die Musikerin schmeißt Latin-Folk, französischen Arthouse-Talk und minimalistische moderne Elektronik mit Reggaeton-Anleihen in ihren brodelnden Topf, und es ist klar ersichtlich, wie sie dabei die Haare zurückgebunden hat. »ROSAL» ist das Gift. Man zieht es sich immer wieder rein und schließt sich am Ende als liebestrunkener Frosch dem Widerstand an, über die Bajonette hinweg wirft man sich lüsterne Blicke zu.
Pippo KuhzartPostpunk-Veröffentlichungen gibt es in Berlin wie Sand am Meer, aber was macht Güner Küniers Debütalbum »Aşk« (türkisch für »Liebe«) so besonders? Die Antwort liegt in seiner schlichten Diversität. Jeder Song ist ein Unikat und viel mehr als nur Postpunk; es umfasst Dark-Psych-Pop in »Seasons Of Dreams«, genauso wie deutsch-türkischen Krautrock in »Gel Gör« oder Synthpunk in »Excellent Choices«. Eine Hommage an die Liebe zur Musik, die man Güner besonders auf ihren One-Women-Liveshows ansieht. Für mich eines der besten Alben UND eines der besten Konzerte des Jahres.
Celeste Dittberner Zur ReviewDie Nadel willkürlich auf die Platte gelegt: »There is so much shit in the world, is good, bad, mad, sad, ugly, happy, but I just love beauty«. Ich überlege kurz, die Rezension an dieser Stelle für geschrieben zu erklären. Eigentlich ist alles gesagt. Nicht nur über die Musik, auch über die Gegenwart, irgendwie auch über mich. Schon gruselt's mich so angenehm. Hinter »The Head Hurts but the Heart Knows the Truth« steht eine Person, die sich selbst Headache nennt. Herkunft, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Aussehen, Überzeugungen: unbekannt. Vegyn von PLZ Make It Ruins hängt mit drin. Das erklärt es zumindest ein bisschen. Die Musik stammt direkt aus dem Jahr 1999, Mo' Wax, Boards Of Canada, Air. Im Hintergrund ein Bewusstseinsstrom, verpackt in griffige Slogans, die man an Wände sprühen, auf bleiche Haut tätowieren oder ins Jahrbuch schreiben möchte. Ich bin mir sicher, dass mir jeden Moment ein Typ erklären wird, dass ich mir Sonnencreme auftragen soll. Aber der Moment kommt nicht. Stattdessen: »Make some noise right now for the voices in your head«.
Sebastian HinzZwei Alben mit Ambient-informiertem Post-Rock hat die irische Musikerin und Bildende Künstlerin Hilary Woods gebraucht, um sich vom Songformat ganz zu verabschieden. Ihr drittes, »Acts Of Light«, ist eine minimalistische Drone-Komposition in neun Teilen. Woods dekonstruiert Streichersamples, Field Recordings, Cello, Viola, elektronische Manipulationen und die Stimmen zweier Chöre bis an den Rand der Erkennbarkeit. Daraus synthetisiert sie einen mächtigen, rumorenden Klangstrom, der das Blut gefrieren lässt.
Albert KochDas achtteilige Gesamtwerk beginnt mit kraftvollen Natureffekten und kulminiert in einem androiden Rausch der Ekstase. Dazwischen schwebt es durch reduzierte Akkord-Wiederholungen, schwellende Streicher, klappernde Breakdown-Drums und futuristische E-Gitarren und Synths in einem schwerelosen Raum. »Mechanical Moon« ist eine traumhafte Entdeckungsreise in den Kosmos des Techno-Minimalismus und eine Mondfahrt in sphärische Gefilde zeitloser Ambient-Kunst.
Celeste Dittberner Zur ReviewMoor Mother denkt Jazz anders, als Kopf von Irreversible Entanglements besonders klassisch politisch, als Befreiungstool gegen systemischen Rassismus und in einer Linie mit den Ikonen der Civil Rights Ära, aber musikalisch mit der Punkiness der Folgegeneration. »Protect Your Light« ist so zu jedem Zeitpunkt wild retrofuturistisch und wie immer vollkommen unangepasst.
Florian Aigner Zur ReviewIsolée ist das Gegenteil von nervigen Marktschreieren. Er ist ein Flüsterer, ein Mann, der lieber mal zu wenig als zu viel sagt. Frei nach Rupert Murdoch bleibt trotzdem immer was hängen. Man muss halt dranbleiben. Isolée bleibt seit gefühlten 1000 Jahren dran. All seine Platten auf Playhouse, Mule, Pampa und so weiter kann man gar nicht mehr in einem Regal unterbringen. Die Alben schon. »Resort Island« ist sein viertes. Es nimmt den nächsten Trend nach dem letzten vorweg, das heißt: Es ist eigentlich alles wunderbar. Und das muss man auch erst mal schaffen.
Christoph Benkeser Zur ReviewDas erste Japan Blues-Album beschäftigt mich bis heute, jeder einzelne Hördurchgang ist anders. Nach achtmal »Meets The Dengie Hundred« ist klar: auch Album Nummer Zwei wird unfassbar bleiben, wortwörtlich. Insbesondere die 20-minütige B-Seite klingt wie nichts, was ich je gehört habe und das, obwohl die einzelnen Elemente eigentlich klar zuzuordnen sind. Jahrzehntbestenlistenshit, wahrscheinlich.
Florian AignerKein Falsett hat hier in der Redaktion 2023 mehr Stecker gezogen als jenes von Josephine Foster. Ihr zutiefst schmerzhafter Folk braucht nicht viele Mittel, um Hörenden die Rüstung wegzupellen: Gesang, E-Gitarre, Naturgeräusche. Zu »Domestic Sphere« kann man sich nur nackt fühlen und als hätte man ein großes funktionierendes Herz.
Pippo KuhzartMit seinem »KADEF«-Projekt dreht der New Yorker Devin Brahja Waldman weiter an der Formel, die schon sein »BRAHJA«-Album so herausragend machte: Repetetiv groovender und äußerst angekrauteter Spiritual-Jazz. Dazu chantet hier Ziad Qoulaii von hoch oben im Wüstenturm seine Vocals. An einigen Stellen packt Sam Shalabi sein unverkennbar zittriges Gitarrenspiel aus. So darf man sich einen anxious Propheten vorstellen, der statt des geheiligten Landes nur noch Fata Morganas..Morgani?…Morganen sieht.
Pippo KuhzartDir fehlt die Muße für neue Platten? Kali Malone, Stephen O’Malley und Lucy Railton machen keine Zugeständnisse an die Hörgewohnheiten einer gehetzten Gesellschaft. Die Texturen von »Does Spring Hide Its Joy?« verändern sich so langsam wie das Licht der Sonne. Ich brauchte Monate, um mich in den meteorologischen Bewegungen dieses dreistündigen Drone-Monolithen einzufinden. Sein offenes Geheimnis: Freude heißt, die Zeit zu vergessen. Dein Chef wird dieses Album hassen!
Michael Zangerl Zur ReviewDas Unterbewusstsein ist ein gemeinhin spannenderer Ort, als es die Schriften von Sigmund Freud oder verspulte Psychedelic-Alben vermuten lassen. US-Künstlerin Laurel Halo beweist dies mit ihrem neuen Album »Atlas«, auf dem sie Ambient und Jazz vereint. Beste Platte, wenn man sich nachts um 2 Uhr in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen bringen will. Mit ihrem Sound macht Laurel Halo auf »Atlas« eine endlos weite Welt auf. Faszinierend und wunderschön in jeder Sekunde.
Björn Bischoff Zur ReviewUnter der Hand bin ich bisher gar kein allzu großer Fan diese barocken Märchenkitschs von Brannten Schnüre gewesen, aber das Soloprojekt Läuten der Seele klammert die lyrische Ebene der Band clever aus, bedient sich als Samplequelle in der Hölle deutscher Heimatfilme und filtert einen sehr caretaker'ischen hypnotischen Vibe aus diesen eigentlich so seelenlosen Platten. Wie immer bei Brannten Schnüre sofort ausverkauft gewesen, aber wohl mit Repress-Termin im Juni.
Florian AignerNein Danke, sagt Little Simz und die Menge jubelt. Es gibt zwei Dinge die die gerade mal achtundzwanzigjährige Britin besonders gut kann: Rappen und mit Dingen abrechnen. Aber anders als im Rap häufig passiert, disst die Musikerin nicht wahllos dahin. Während Simz noch mit ihrer Tour zu dem Vorgänger »I Might Be Introvert« durch Europa düst, schießt die Sängerin direkt ein weiteres Album nach. »No Thank You« ist Abschied, Konfrontation und Reset. Niemals hat jemand schöner Grenzen gesetzt.
Ania Gleich Zur ReviewProg-Soul? Avant-R&B? Beim neuen Album von Loraine James könnte man sicher sehr gut ein Preisausschreiben für die bekloppteste Klassifizierung ausloben, um am Ende ein Wort für das zu haben, was die Londoner Produzentin da genau veranstaltet. Doch so anstrengend, wie die Beschreibung vermuten ließe, klingt die Musik gar nicht. Die hat eine verpixelte Wärme, liebt das Abenteuer mit Beats und kann sogar witzig sein. Die Geschichte muss das zwar erst verbindlich klären, aber bis jetzt ist »Gentle Confrontation« ihre stärkste Platte.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewAls ich Martina Bertonis »Hypnagogia« das erste Mal hörte, kauerte ich in einem überfüllten Billigflieger. Übermüdet erhoffte ich mir einschläfernde Hintergrundmusik. Doch bereits der erste Ton schlug mich völlig in den Bann. Die Cellistin setzt jede Note, jede Modulation, jedes Rauschen als würde sie ein Neugeborenes streicheln. 2023 habe ich kein Album so oft gespielt wie »Hypnagogia«. Nahezu perfektes Pacing macht es zu einer der besten Ambient-Kompositionen, die die Dekade bisher zu bieten hat.
Michael ZangerlMary Jane Leach durchlebt ein sonderbares Comeback. Vor allem im Kontext von Reissues der Werke Julias Eastmans taucht ihr Name derzeit auf, tatsächlich hat sich der posthume Hype um ihn auch ein wenig auf sie ausgewirkt. »Woodwind« ist erst ihr sechstes Album innerhalb von 36 Jahren, jedoch das dritte in den letzten sechs und ihr zweites für Modern Love. Es ist sehr, sehr gut: Völlig unprätentiöser, zeitgenössischer Minimalismus für Bläser beziehungsweise Tape – deutlich in alter New-York-Avantgarde-Tradition stehend und sich doch nicht darum scherend, ob es dafür Bonuspunkte gibt.
Kristoffer CornilsNiemand hat für mehr für die Repolitisierung des Jazz im 21. Jahrhundert getan als Matana Roberts. In ihrer Albenreihe »Coin Coin« erzählt die Saxofonistin aus Chicago die Emanzipationsgeschichte der Afroamerikaner anhand ihrer eigenen Familienhistorie. Im fünften Teil thematisiert Roberts die Geschichte einer Verwandten, die vor 100 Jahren an einer illegalen Abtreibung gestorben ist. Ein musikalisches Patchwork, bei dem die Grenzen zwischen Free Jazz, Post Rock, Folk, Noise und Improvisation verschwinden.
Albert Koch Zur ReviewGimmicky, aber undeniable ist derweil Maxime Denucs Formel für »Nachthorn«. Trance- und Rave-Melodien via Pfeifenorgel, Barker via Kali Malone, eine Idee so einfach wie gefährlich. Denuc schafft es fast durchgängig die käsigen Ibiza-Harmonien mit einer staatsmännischen Gravitas so einzufangen, dass »Nachthorn« nicht wie ein kalkulierter TikTok-Stunt wirkt, obwohl hier konzeptionell so viel Metamüll herumliegt, dass das eigentlich alles so krachend scheitern sollte wie »Everything Everywhere All At Once«.
Florian AignerRapmäßig ist auf physischen Tonträgern wieder wenig passiert, was mich tangiert hätte, aber »Yallah Beibe« böllert nicht nur auf Grund der manischen Produktionsarbeit von Debmaster, Scotch Rolex und ChrisMan, sondern lebt gleichermaßen von der atemlos-durchexerzierten Flow-Konjugation von MC Yallah selbst. Als hätten »Boy In Da Corner« und »Fantastic Damage« sich damals ein Hotelzimmer genommen.
Florian Aigner Zur ReviewMan stelle sich vor, der virtuose Jazzschlagzeuger Mike Reed nimmt mit Ben LaMar Gay (dem derzeit wohl gefragtesten Hornisten im zeitgenössischen Jazz) und den Jungs von Bitchin Bajas (Cooper Crain, Dan Quinlivan, Rob Frye) ein Album auf und bittet als Bonus den Poeten Marvin Tate, einige seiner Gedichte über die Musik zu sprechen. Nun, das klingt wie der Traum derer, die Chicago seit Mitte der 1990er-Jahre als Synonym des Jazz jenseits aller Grenzen verwenden. Sie dürfen sich 2023 einmal mehr bestätigt fühlen. Ihr Traum ist Wirklichkeit geworden. Das Album heißt »The Separatist Party«. Die Realität übertrifft ihre Vorstellungen.
Sebastian HinzEs fällt schwer, beim ersten Durchlauf von »Exit Simulation« nicht an Grouper zu denken. Wo Liz Harris aber Folk-Pop unter Reverb und Rauschen versenkt, stellt Filmkomponistin und Sängerin Niecy Blues ihr Ausgangsmaterial deutlicher heraus und lässt das Sounddesign ihre Songs umspielen statt dominieren. Verschwommene Erinnerungen an Gospel, Jazz, Soul, Downbeat, R’n’B – es geht sprunghaft durch die Gernes. Deren Formeln verwendet Niecy Blues als Blaupausen, erweitert sie durch sehnsüchtig-sphärische Gesangsharmonien und lässt sie diffundieren. Das beste Debüt des Jahres.
Kristoffer Cornils Zur ReviewDer erste Kandidat für die Konsens-Clubplatte des Jahres soweit. Hymnisch, gern ambivalent emotional, großraumgeeignet ohne doof, die Brüder Tom und Ed Russell von Overmono machen auf ihrem Debütalbum »Good Lies« so viele Dinge auf ihre spezifische Weise richtig, dass man wenig zu meckern findet. Dass sie die Tonlage ihres nervös hüpfenden Bassmusik-Grooves bei alledem mehr oder minder konstant beibehalten, mag man bemängeln. Man kann aber auch sagen: So gut, wie sie diesen Ton finden, lässt sich damit für knapp 50 Minuten bestens leben.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewEs hatte sich auf den vergangenen Alben abgezeichnet, nun haben wir die finale Form: Philipp Otterbach kommt mit »Correct Me If I Am Incorrectly You« voll bei dem Sound an, mit dem man ihn beschrieben hätte, bevor es das Album überhaupt gab. Irgendwas mit Kunst und Industrial. Mit Existenzialismus und der Textur des Universums. Irgendwas mit Minimalismus und wie darin trotzdem das ganz große Drama aufgespannt werden kann. Ein, nein DER echte Otterbach.
Pippo Kuhzart Zur ReviewBei Alben wie dem von Pose Dia wünsch ich mir fast die gute alte Spex zurück. Allein der Titel »Simulate Yourself« hätte die Klugscheißerbande dermaßen provoziert, dass mehrseitige Collagen von zerfledderten Merve-Bändchen entstanden wären, die dann niemand, nicht einmal sie selbst, verstanden hätten. Tja, wäre ja auch ein Unding, einfach mal zu schreiben, dass das guter Pop ist, ohne dass man 32 Semester kognitive Verwirrung drüberbaut, oder? Na, schon! Also machen wir das mal.
Christoph Benkeser Zur ReviewRoxane Métayer macht auf »Perlée De Sève« aus vielen kleinen Dingen ein großes. Geige, Holzbläser, Effekte sowie ihre Stimme kommen in Stücken zum Einsatz, in denen Sounds frei im Raum schweben zu scheinen. Was sie zueinander zieht und miteinander schwingen lässt, sind die leitenden Ideen der Französin, die abwechselnd Folk, Minimal Music, Fourth-World-Anleihen oder elektroakustische Musik zu ihrem kompositorischen Ausgangspunkt nimmt. Die Reise scheint zwar vorbestimmt, ihren Verlauf aber kennt nur Métayer. Wer ihr dabei folgt, wird immer wieder überrascht.
Kristoffer CornilsReichlich was los in Südkorea. Die K-Pop-Kampagne hat womöglich geholfen, um außerhalb des Landes zusätzlich Neugier zu wecken, was es dort neben Mainstream alles gibt. Das Duo Salamanda zum Beispiel, die auf »In Parallel« aufregend friedliche Klänge zusammenfügen. Diese sind weder allzu vertraut noch folgen sie in besonders erwartbarer Weise aufeinander. Gut, Repetion und Groove setzen sie ein, aber alles ganz sutsche. Eine Art extrem minimalistischer Pop, der diskret nach Asien klingt.
Tim Caspar Boehme Zur Review»Moon Set, Moon Rise« fühlt sich wie eine Meitei-Platte ohne die Beats oder ein The-Caretaker-Album in der falschen beziehungsweise richtigen Geschwindigkeit an. Oder doch wie eine verblasste Erinnerung an eine verzweifelte Nacht mit der Musik Alice Coltranes. Es ist wie alles, was sowohl Neo-Klassik als auch Jazz immer sein wollten und dann doch aus verschiedenen Gründen nie konnten. Ein Klavier, ein Cello, zwei »old souls«, wie Salenta Baisden und Topu Lyo sich selbst bezeichnen: Das ergibt in der Gleichung Musik, die zur reinen Stimmung geworden ist. Zum Vibe. Zu einem Gefühl, das aus sich selbst heraus geboren wird. Ein Album für die Ewigkeit, flüchtig wie Zigarettenrauch an einem offenen Fenster.
Kristoffer CornilsEs ist eigentlich unfassbar dreist, dass The Necks ein paar Aufwärmübungen auf Platte pressen und »Travel« dann schlicht eines der besten Alben des Jahres wird. Jazz? Post-Rock? Minimal Music, auf eine Bandbesetzung transponiert? Alles davon, aber nichts. Wie immer also stattdessen einfach nur drei Typen, die seit drei Jahrzehnten aus dem Nichts heraus Musik machen können, die die Zeit stehen lässt. Insbesondere hier, in diesen vergleichsweisen kurzen Improvisationen, die sie hier in etwas polierter Form darbieten. Und die bescheiden und freundlich alles in den Schatten stellen, was jemals Vergleichbares versucht hat.
Kristoffer Cornils Zur ReviewTirzahs »Colourgrade« ist für mich bisher vielleicht das definierende Pop-Album dieses jungen Jahrzehnts, »Trip9love…???« eine unerwartete Zugabe, auf der Tirzah und Mica Levi bewusst Motive und Beats auf der Mikroebene denken und so eine repetive Wirkung erzeugen, die - mit anderen Mitteln - stellenweise an DJ Pythons stetig weiter zum Klassiker reifendes »Mas Amables« erinnert.
Florian AignerTravis Scott versuchte mit »UTOPIA« sehr hart seinen großen Roman vorzulegen, seine ornamentale Größus-Erzählung, eine einzige ausufernde Geste. Solangsam hat er alle Kanye-Phasen perfekt nachgespielt, hoffentlich lässt er die nächsten aus. Allen Zynismus aside ist »UTOPIA« tatsächlich ein riesen Album geworden, weil die Beats ballern und Scotts Gespür für Atmosphäre im Rap akutell unerreicht bleibt – Turn Up für die in der Höhle Angeketteten, im schwarzen Lambo rast man dem Untergang entgegen. Extra Punkte gibt es für die gänsehauttreibende Verwendung des Amanaz-Samples auf »Sirens« und natürlich für »I Know«, einem der Rap-Hits des Jahres.
Pippo KuhzartAlarmbereitschaft ist hier name of the game. Gewaltbereitschaft, Aufstand, Angst, Adrenalin. Tzusing zerlegt sechs Jahre nach seinem großartigen Debüt »Invincible East« auch mit »Green Hat« ganze Straßenzüge. Hardgroove Techno mit argen dystopischen Vibes bildet den Kern, drum herum baut Tzusing ein Gerüst aus Industrial und EBM, das einem gleichzeitig den Puls höher treibt und das Blut in den Adern gefrieren lässt. Irgendwas will hier an die Macht und es ist definitiv nicht gut.
Pippo Kuhzartupsammy beschäftigt sich in ihren Werken seit Jahren mit dem fruchtbaren Kontrast zwischen Artifiziellem und Organischem, sie setzt Menschengemachtem Natürliches, Gluckerndes, Raschelndes entgegen. Auf »Germ In A Population Of Buildings« geht diese Praxis bislang am besten auf, weil Thorsing ihre Tracks, die zwischen Bass Music, Techno und Ambient pendeln, dieses Mal nicht nur metaphorisch, sondern ganz wahrhaftig sprechen lässt, und damit den ihrer Musik inhärenten Verfremdungseffekt ins Unermessliche steigert.
Maximilian FritzVanishing Twin sind so etwas wie das Bauhaus des 21. Jahrhunderts – das mittlerweile auf drei Mitglieder geschrumpfte Kollektiv mischt sämtliche Stile und Genres auf so experimentelle und verspielte Art, dass alles daran nach Avantgarde schreit. Auf »Afternoon X« nehmen die Multiinstrumentalist*innen mit auf einen wilden Ritt durch trippy Klanglandschaften und dadaistische Collagen, bei denen immer ein gewisses Unbehagen mitschwingt. Bevor die halbstündige Hypnose ihre volle Kraft entfalten kann, holt der Album-Closer »Subito« sanft zurück in die Realität.
Laura KunkelSferic lehnen sich mit Yungwebster mal etwas weiter aus dem Fenster, gescrewter Syruprap ist aber eigentlich auch das, was nach dem letzten Space Afrika-Album nur noch zu Ende gedacht werden musste, um die unantastbare Position, die sich das Label aus Manchester in den letzten Jahren erarbeitet hat, nochmal um mindestens fünf Jahre zu verlängern. Die müdeste Platte des Jahres und allein deswegen essentiell.
Florian AignerZack Zack Zack aus Wien machen mit düsteren Synthesizern und dreisprachigen Texten die Mitter- zur tanzbaren Walpurgisnacht! Das aus Izmir stammende Wiener Duo überzeugt dabei nach ihrem Erfolg mit »Album 1« durch ihren dunklen Industrial-Vibe, der den Raum genauso sinister wie melancholisch stimmt. Mit der Deutschen Bahn flitzen Yigit Bakkalbasi und Cemgil Demirtas übrigens auch gerne und machen ihre Leidenschaft zum nach vorne preschenden Dark-Wave-Hit. Auf jeden Fall eine feine Ergänzung für die schwarze Clubnacht!
Ania Gleich Zur Review