Aigners Inventur: März & April 2022

09.03.2022
Aigners Inventur März & April 2022
Die Hosen zu eng, der Scheitel zu seitlich, und darunter das Selbstverständnis, dass die größte Herausforderung die eigene Durchgentrifizierung und Verspießung sein würde: Auch Aigners Inventur erwacht im März 2022 aus den Nuller-Jahren.
Animal Collective
Time Skiffs (2022)
ab 37.99€

Das neue Animal Collective Album Album rasselt in eine Zeit, in der man sich als Enddreißiger nun final auch so desillusioniert fühlt wie die Generationen vor und nach einem. Kaum eine Band war so Sinnbild für die große Selbsttäuschung der Nuller, den Scheiß einfach ausgefiguret zu haben, persönlich, klimatisch, weltpolitisch. Die Hosen zu eng, die Schuhe zu klobig, der Scheitel zu seitlich, aber immer mit dem Selbstverständnis, dass die größte Herausforderung die eigene Durchgentrifizierung und Verspießung sein würde. 2022 ist ein Animal Collective (»Time Skiffs«) dann eher ein wehmütiger Blick auf das eigene naive Coming Of Age und die späte Einsicht, dass Utopien die Luft ausgegangen ist.

Florian Aigner
Beach House
Once Twice Melody (2022)
ab 67.99€

Ähnliches gilt für Beach House die andere feste Größe leichtzuverdauender First World Melancholie, der es streng genommen schon immer an Verbindlichkeit gefehlt hatte, aber als Eskapismusmarker für die eigene Wehleidigkeit schon auch einige Jahre unverzichtbar gewesen ist. »Once Twice Melody« fühlt sich (wie auch »Time Skiffs«) in einer sehr real gewordenen Kriegssituation krass falsch an, aber die Frage bleibt natürlich wie sich eine solch frivole Kolumne wie diese hier aktuell ohnehin schreiben lässt, ohne sich nicht tonedeaf zu fühlen.

Florian Aigner
So Sner
Reime (2022)
ab 22.99€

Zumindest mir helfen in dieser Situation leise Alben, die ihre Emotionalität behutsam und weitgehend wortlos transportieren. »Reime« von SO SNER ist ein solches Album, ein pulsierendes, in Vainio'schem Minimalismus gerootetes Album, dessen Pointen fast ausschließlich durch Susanna Gartmayers behutsam inszenierte Bassklarinette gesetzt werden, während Stefan Schneiders uneitle Rhythmen Reime zu einem sehr hermetischen Album machen. Seit dem 24.02. locker 10x durchgehört, was auch immer das bedeutet.

Florian Aigner
Läuten Der Seele
Läuten Der Seele
ab 21.99€

Unter der Hand bin ich bisher gar kein allzu großer Fan diese barocken Märchenkitschs von Brannten Schnüre gewesen, aber das Soloprojekt Läuten der Seele klammert die lyrische Ebene der Band clever aus, bedient sich als Samplequelle in der Hölle deutscher Heimatfilme und filtert einen sehr caretaker'ischen hypnotischen Vibe aus diesen eigentlich so seelenlosen Platten. Wie immer bei Brannten Schnüre sofort ausverkauft gewesen, aber wohl mit Repress-Termin im Juni.

Florian Aigner
Eiko Ishibashi
For Mccoy
ab 23.99€

Ebenfalls eine vielgehörte Platte der letzten Wochen: Eiko Ishibashis »For McCoy«, deren Referenzrahmen maximal random daher kommt (Law & Order, hä?), aber mit Ausnahme des abschließenden und doch arg käsigen dritten Stücks zwei ausufernde Ambient Jazz Skulpturen schnitzt, die sich vor den großen Reissue-Grails auf Black Sweat oder Soave überhaupt nicht verstecken müssen.

Florian Aigner
Eartheater
Phoenix: La Petite Mort Edition (2021)
ab 24.99€

Eartheater dampft derweil den hypermodernen Pop ihres letzten Albums ein und lässt »Phoenix« in der La Petite Morte Edition zu einer postapokalyptischen Molasse einköcheln. Das ist Musik, in der post kein Genre-Label sondern wirklich ein Zustand geworden ist.

Florian Aigner
Meitei
Kofu II (2022)
ab 34.99€

Geerdeter ist die neue Meitei) stilistisch aber auch weit weniger Interiordesignporn als die vorherigen Alben. Laut Pressetext ist »Kofu II« die späte Einsicht, dass das Cutting Room Floor Material von »Kofu« doch stark genug war, um es rekontextualisiert zu veröffentlichen und es fällt auf, dass die wildesten Ideen erst hier durchgewunken werden.

Florian Aigner
Carmen Villain
Only Love From Now On (2022)
ab 23.99€

Ebenfalls unerwartet auf Dauerschleife: der fromme Wunsch von Carmen Villain »Only Love From Now On« Ähnlich wie schon Eiko Ishibashi und SO SNER ist das Musik, die gerade die ideale Balance zwischen Vor- und Nachsicht findet, ein im falschen Moment durchaus plättschriger Ambientdub mit gedrosselter Technobassdrum und virtuos getimeten Jazz-Akzenten, livetickerproof und erdend.

Florian Aigner
Debit
The Long Count (2022)
Modern Love • 2022 • ab 27.99€

Das neue Debit-Album »The Long Count« ist vorsichtig selbstbewusst, nicht eine Spur zu viel lenkt hier von der Essenz ab, ein komplett abstrahiertes Arrangement teilweise selbstgebauter traditioneller Blasinstrumente der Maya-Kultur, ein unpenetrierbarer multitonaler Trip durch Sounds und vor allem Stimmungen, die gleichzeitig nach 3000 vor und nach Christus klingen.

Florian Aigner
Pataphysical
Hapticality (2022)
ab 17.24€

Klassischer, weil mit dem wie immer nichts konkret beschreibenden, aber assoziativ zumindest ergiebigen Tag Ambient zumindest leichter zu fassend: das neue Pataphysical Album für Good Morning Tapes, aber gut, der Kalauer schrieb sich bei einem Albumtitel wie »Hapticality« natürlich von selbst. Der Pressetext erwähnt Boards of Canada und eine Dream-interzone, ihr wisst Bescheid.

Florian Aigner
Uwalmassa
Malar (2022)
ab 22.99€

Für das eigene Anxiety-Level aktuell vielleicht eine Nummer zu hart könnte Uwalmassas nervöse Polyrhythmik sein, »Malar« ist nach zwei ebenfalls komplett eigenständigen EPs ein noch mutigerer Schritt zu rhythmischer Radikalität, den sich das Kollektiv aus Jakarta hier für Mana traut. Die üblichen Hassell-Namedrops führen nämlich komplett ins Leere, das ist Musik, wie man sie so nicht kennt.

Florian Aigner
ADULT.
Becoming Undone (2022)
ab 26.99€

So richtig geklickt haben Adult. bisher für mich nicht, aber »Becoming Undone« ist ein willkommener Reminder für die Körperlichkeit und Muskulösität elektronischer Musik, nach all dieser selbstauferlegten Vorsichtigkeit der zuvor hier verhandelten Alben. Vocals, Synths, Drums: hier ist alles am Anschlag und damit wortwörtlich überwältigend.

Florian Aigner
Kinlaw & Franco Franco
Mega Dopo Mega (2021)
ab 19.99€

Während Adult. sich bei ihrem Wall Of Sound eher an Synth-Punk und EBM orientieren, ist Kinlaws zweite Zusammenarbeit mit Anarcho-Spitter Franco Franco der endlich legit coole Cousin achten Grades zum Judgement Day Soundtrack. Verzerrt af, Crust Punk in der Attitüde und hochmoderner Franzosen Trap als Inspiration wird hier geballert im ziemlich literalen Sinne. »Mega Dopo Mega« überfordert mich aktuell krass, ist aber willkommen unbändig.

Florian Aigner
Shinichi Atobe
Love Of Plastic (2022)
ab 30.99€

Zumal sich mit der neuen Shinichi Atobe Platte erwartungsgemäß alles wieder schnell glätten lässt. »Love Of Plastic« ist in einer perfekt durchgestylten Diskografie eine der spröderen Platten, aber nach wie vor gibt es kaum jemanden, der so selbstverständlich House und Techno in seiner natürlichen Eleganz erfasst wie der Japaner. Bemerkenswert wie durch einen reduzierten, aber emotiven Zugang jedes Mal vollkommen zeitlose Musik entsteht.

Florian Aigner
Amotik
Patanjali (2022)
ab 23.99€

Amotik hat in seiner noch recht kurzen Karriere von gerade bis breaky, von schroff bis verspielt, von hymnisch bis behutsam schon alle Formen elektronischer Tanzmusik durch und wählt für sein neues Album »Patanjali« einen recht uniformen Synthsound als Leitmotif, das sich selbstbewusst zwischen Warp und Detroit aufstellt, aber die recht einschlägigen Vorbilder qualitativ nicht ganz erreicht. Passt narrativ natürlich wunderbar in die Pandemie, könnte aber auch einfach in weiten Teilen eine schwächere Rephlex Platte um die Jahrtausendwende sein.

Florian Aigner
Vivien Goldman
Next Is Now Neon (2022)
ab 21.99€

Vivien Goldman war eines der letzten Prä-Corona-Konzerte, an das ich mich erinnere und schon dort war ich angenehm überrascht wie unpeinlich sich deren neue Stücke in ihren überschaubaren, unantastbaren Backkatalog einfügten. Auf Platte leidet »Next Is Now« dann aber schon etwas an der etwas zu professionellen Produktion, die die dubbige Rotzigkeit doch schnell in Trip Hop-Convenience absaufen lässt. Trotzdem eine insgesamt wholesome Platte, die aber eindeutig für die Bühne gemacht wurde.

Florian Aigner
Movietone
Peel Sessions (2022)
ab 33.99€

Eigentlich ja keine neue Platte per se, aber da sich die älteren Movietone Platten in den letzten zwei, drei Jahren als Fixpunkte bei mir erwiesen haben und zumindest ich die Peel Sessions zuvor nicht kannte: es gibt diese jetzt erstmals auf Platte und die Platte ist sehr gut. Ich gucke jetzt Jake Johnsons »Mindfield Part« auf mute und höre dazu die neue Rat Heart, in der Hoffnung, dass sich doch noch ein Kreis schließt.

Florian Aigner