Aigners Inventur: Mai & Juni 2020

06.05.2020
Befreit sich von kaukasischer Clumsiness, hat Tiktok verstanden, züchtet Sauerteig und checkt’s einfach: Aigners Inventur im Lockdown. Verstörender Scheiß für verstörende Zeiten.
DJ Python
Mas Amable
Incienso • 2020 • ab 19.99€
Das neue Album von DJ Python war schon Prä-Corona nach ersten Snippets ein klarer Kandidat für die Rubrik »Album des Jahres«, entwickelte sich aber zumindest für mich in den letzten vier Wochen zum definitiven Lockdown-Classic. Während DJ Pythons vorherige Alben Deep House rhythmisch aus der Patsche halfen, ist »Mas Amable« in seinem durchgängigen Dancehall/Dembow-Chug ein Genre-Meisterwerk in der Größenordnung der ersten beiden Equiknoxx-Alben, gleichzeitig aber wird hier auch noch süßlicher IDM und kitschiger Trip Hop von seiner kaukasischen Clumsiness befreit.

Ähnlich sensationell und leider im ersten Run sofort vergriffen: CS & Kreme und »Snoopy«. Die Australier hatten bereits zuvor auf EP-Länge immer wieder die inhärenten HTRK’ismen in den coolsten Pop-Entwurf der späten 10er übersetzt, die Art und Weise wie hier aber auch Albumlänge Avantgarde-Protzerei in genuine Emotionen übersetzt wird, ist schon auch konkurrenzlos gerade. Klingt schwurbelig, ist aber bemerkenswert zugänglich und damaligen Cocteau Twins oder Pink Industry-Werken damit gar nicht so unähnlich.

Nazar
Guerilla
Hyperdub • 2020 • ab 26.99€
»Guerilla« von Nazar zu pandemisieren wird der hoch persönlichen Backstory des Albums nicht gerecht, gleichzeitig braucht man keine Journalistenschule besucht zu haben um anzumerken, dass die disruptive Energie des Albums sich aktuell natürlich perfekt rekontextualisieren lässt. Anders ausgedrückt: das ist verstörender Scheiß für verstörende Zeiten, aber irgendwie stecken da auch zweieinhalb Hits drin, um sich 2024 bei United We Stream einen Kanister selbstgebranntes Ethanol in den Rachen zu schütten.

Minor Science
Second Language
Whities • 2020 • ab 21.99€
Zur Review
Schätzelein Cornils hat in seiner Review, Minor Science glaube ich schon alle fairen Kritikpunkte an dieser Platte genannt, vielleicht ist »Second Language« aber auch einfach das erste Dance-Album, das Tiktok verstanden hat. Für mich jedenfalls ist das stellenweise frustrierender, aber insgesamt ungeheuer belohnder Ideen-Flex, aus dem andere eine zehnjährige Diskographie gebaut hätten.

Ein krasser Kontrast zu Minor Science ist »Cape Cira«, weil K-Lone hier ein thematisch hyperkonzentriertes Mikro-Genre Album gemacht hat, das in seiner hermetischen Tonalität damit teilweise an das »Workaround« von Beatrice Dillon erinnert, sich aber genremäßig für Tropical-Tropen und naiven Eskapismus nicht zu schade ist. Als Club-Produzent hat K-Lone zwar die besseren Ideen, aber Respekt für so viel Zurückhaltung hier.

Shit & Shine
Scenic Farm
Rock Is Hell • 2020 • ab 26.99€
Shit & Shine halten sich nie zurück und wie immer ist das gut und schlecht. In seinen musikalischsten Momenten ist auch »Scenic Farming« wieder ein Riesenspaß. Spaghetti Western Big Beat trifft auch schmatzige Madchester Basslines, Oizo-Humor auf Warp-Augenbrauen, aber natürlich auch wie immer furzen die feixenden Shitheads immer nach drei Löffeln direkt in die dampfende Suppe. Tollste Kackband.

DJ Die Soon
Kappa Slap
Morphine • 2020 • ab 17.99€
Auch zu »Kappa Slaps« Dissonanzfetisch könnte man sich prima Covid-19-Metaphern schnitzen, aber eigentlich gehört DJ Die Soon mit dieser Platte nicht in die Wohnzimmer sondern als Irritator in die mittelgroßen Clubs dieser Welt, am besten direkt zusammen mit Slikback und den neuen verrückten Chinesen.

Luke Slater
Berghain Fünfzehn
Ostgut Ton • 2020 • ab 17.99€
Stichwort Clubgröße: Luke Slaters »Berghain 15« bevorzugt natürlich XXL, aber außerhalb der Berghain Mauern macht eigentlich nur seine furiose Shed-Schnitzeljagd aka Track 6 so richtig Spaß. Ist aber auch gerade schwierig zu beurteilen während man Sauerteig züchtet und Bewerbungsschreiben für Schrebergärten erstellt.

Fear Ratio, The (Mark Broom & James Ruskin)
They Can't Be Saved
Skam • 2020 • ab 28.99€
Auch zu massiv für den Heimeinsatz dürfte ein Großteil der The Fear Ratio Platte sein, wobei hier die britische Breakbeat-Tradition auch immer wieder easy nachfedert. Gescom bleibt als unerreichte Referenz natürlich eine Nummer zu groß, aber »They Can’t Be Saved« ist eines der besseren neuen Alben der Warp-Achse.

NYZ
Old TRX 87-93 Purple Vinyl Edition
The Death Of Rave • 2020 • ab 27.99€
Ob man der kolportierten Entstehungsgeschichte der neuen alten NYZ Collection »Old Trx 87-93« glauben mag, weiß ich nicht genau, aber feststeht, dass Dave Burrastons Tracks hier eigentlich gar keinen nachträglichen Retroanstrich brauchen um zu überzeugen. Natürlich wirkt das alles wesentlich visionärer mit der Datierung im Titel, aber auch wenn die hier versammelten Tracks auch nur halb so alt wären, würde sich das ebenfalls perfekt in die selbe Bubble schmiegen wie The Fear Ratio.

Hodge
Shadows In Blue
Houndstooth • 2020 • ab 24.99€
Mir fällt derweil niemand ein, der in seiner Lead-Melodie-Selection so oft und so fluide von Autechre zu Sasha wechselt wie Hodge. »Shadows In Blue« ist, wie man das halt so macht bei elektronischen Alben, natürlich auch mit beatlosen Sequenzen wattiert, aber auch im Albumformat schafft es Hodge wie kaum jemand seit Bicep populistische Gesten so unpeinlich wirken zu lassen. Dazu noch State Of The Art UK Bass und Pattern-Irrsinn: er kann’s.

Lorenzo Senni
Scacco Matto
Warp • 2020 • ab 31.99€
Lorenzo Senni hat sich für mich seit Barker selbst abgeschafft, aber wer nicht so ein abgehobener Douche ist wie ich, dürfte mit »Scacco Mattos« merkwürdig testoterongetränkten Endlos-Arpeggios immer noch ein Menge Spaß haben.

Lemon Quartet
Crestless
Last Resort • 2020 • ab 20.99€
Ich nehme mir stattdessen noch das angenehm uncool dadjazzige »Crestless« mit, ein Album, das zugegebenermaßen genau so vor fünf Jahren schon auf Music From Memory hätte erscheinen können ohne besonders aufzufallen, aber irgendwie trötet sich das Lemon Quartet hier trotzdem straight in meine Muzak-Rezeptoren.

Ben Bertrand
Manes
Stroom • 2020 • ab 23.99€

Auch super und gar nicht mal so ganz easy wie zuvor »Crestless«: Ben Bertrands Zweitling »Manes« und gleichzeitig das erste Album für Stroom. Wie so oft bei neuen Releases dort hat das nichts mit Ambient als Hintergrundgedudel zu tun, gleichzeitig aber auch nichts mit konzeptionell-akademischem KUNSCHT-Gewichse.

Florian Aigner   Zur Review
Koyil
Healing Cycles
Dig • 2020 • ab 14.99€
Vielleicht hat sich die Jon Hassell (übrigens: helft dem Mann) Exegese die letzten Jahre selbst überholt und die neue Generation mittlerweile verstanden, dass hier nicht mehr viel zu holen ist, aber ab und zu kommt doch wieder so ein Kolben wie »Healing Cycles«, der diesem ganzen zwitscherigen Exotismus einen eigenen Stempel aufdrückt. Koyil kommt aus Russland und checkt’s einfach.

Yves Tumor
Heaven To A Tortured Mind Black Vinyl Edition
Warp • 2020 • ab 31.99€
Yves Tumor checkt’s vermutlich auch einfach, wir halt aber nicht

Zebra Katz
Less Is Moor
The Vinyl Factory • 2020 • ab 36.99€
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Es gibt nach wie vor erschreckend wenige geglückte Annäherungen von Rap und Tanzmusik, die auch wirklich Stallgeruch haben und nicht konstruiert wirken. Damit soll natürlich nicht die ständige wechselseitige Beeinflussung gemeint sein, sondern die Konstellation Rapper + Beats. Zebra Katz‘ »Less Is Moor« ist genau deswegen so eine Hausnummer, auch ohne Vocals wäre das hier ein Album, das nicht negativ im hektischen PAN-Schedule auffallen würden, aber durch Zebra Katz‘ im wahrsten Sinne des Wortes furiose Raps und thematische Bandbreite ein neues Level an Verbindlichkeit erreicht.

Jay Electronica
A Written Testimony
Roc Nation • 2020 • ab 36.99€
Wir klingen eher klassisch aus, mit dem Messias A.D. Jay Electronica und das nie kommende Album ist schon seit fast einem Jahrzehnt ein Treppenwitz, dass »A Written Testimony« nun nicht nur ein Versprechen einlöst, sondern nebenbei noch das beste Jay-Z Album seit mindestens »American Gangster« geworden ist, ist schon eine kleine Sensation. Eher eine Folge »The Last Dance« als »Black Mirror«, aber wen sollte das ernsthaft stören? Hätte nicht Ka derweil in dieser Sparte mit seinem neuesten (bisher nur digital veröffentlichtem) Album wieder ALLES weggeboxt, ich wäre noch mehr aus dem Häuschen.

Knxwledge
1988
Stones Throw • 2020 • ab 21.99€
Nochmal klassisch, aber ohne klassische Vocals, [»1988«](https://www.hhv-mag.com/de/review/11007/knxwledge-1988,) eines von dreihunder Knxwledge Beattapes, aber mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass das offiziell als neues Album läuft. Dabei bleibt Knxwledge einer der besten Dilla-Nachlassverwalter, insbesondere sein Umgang mit Vocalsamples ist diesseits von Burial ziemlich konkurrenzlos.

El Michels Affair
Adult Themes Black Vinyl Edition
Big Crown • 2020 • ab 23.99€
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El Michels Affair zu pumpen fühlt sich immer latent spießig an, aber erst neulich wieder laut ausgesprochen: die Go-To-Wu-Tang-Coverband zu sein, ist und bleibt eigentlich ein unschlagbares Konzept. »Adult Themes« ist nun wieder eines der Wu-freien Alben, gefällig angepsycht, mit sporadischen Vocals sogar und nur manchmal unangenehm cocktailbarig (ja, sowas gab’s mal). Ein Album wie ein Schnitzelbrötchen.

Irreversible Entanglements
Who Sent You?
International Anthem • 2020 • ab 25.99€
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Die neue Platte von Irreversible Entanglements zu hören ist dann ein unversöhnlicher Abschluss. Nicht nur, weil Irreversible Enanglements eine der unversöhnlichsten Bands der Welt sind und mit genau der richtigen Mischung aus Wut und Zynismus gesellschaftliche Fuck-Ups gnadenlos aufarbeiten (Moor Mother <3 ), sondern weil »Who Sent You?!« eine Platte ist, die man live hören muss. Zuhause mag das Kakophonie sein, dicht zusammengepfercht in einem dunklen Keller ist und bleibt das live eine Grenzerfahrung, die man in der aktuellen Situation besonders drastisch vermisst.


Die Schallplatten aus Aigners Inventur findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/aigners-inventur-mai-2020/i:D2S12SP15608)