War Dean Blunt überhaupt anwesend? Die Menschen, die keinen Platz in einer der ersten drei Reihen gefunden hatten, dürften sich nicht sicher gewesen sein. Es war stockdunkel im Saal, neblig und wenn es mal hell wurde, dann weil ein Strahler direkt in das Publikum blitze. Wer in den ersten Reihen stand, der sah zwar Dean Blunt, aber konnte die eingangs gestellte Frage trotzdem nicht endgültig beantworten. Denn dafür war alles zu wenig greifbar. Was auf der Bühne geschah, wirkte als würde es immer einen Schritt neben der Realität stolpern: Es wirkte zu real, um eine Performance zu sein, es wirkte zu einstudiert, um real zu sein. Es schien wie ein unvermittelter Auftritt auf der Straße und gleichzeitig wie das lange geplante Theaterstück eines Typen, der genau um moderne Kunsttherorie weiß. Nach seinem Solo trabte ein Trompeter wieder von der Bühne, Dean Blunt schlenderte auf diese zurück: wie in einer Einkaufsstraße kamen die beiden nicht aneinander vorbei – geht er links? gehe ich links? Das ist Alltag in seiner plumpesten Form und virtuose Inszenierung gleichzeitig. Zwischen diesen Gegensätzen lag der Leerraum. Vermute ich, glaube ich! Denn etwas festzulegen würde (glaube ich) den Sinn dieses Abends komplett verfehlen. Deswegen wechsele ich hier in die Ich-Perspektive. Warum genau? Dazu später. Erstmal Leerräume. Das Konzert ging gute 40 Minuten insgesamt. Zehn davon regnete es einfach. Es plätscherte aus den Lautsprechern, während ich direkt vor der Bühne im Dunkeln stand und merkte wie sich meine Wahrnehmung schärfte: Ich sah das rote Licht des Kompressors blinken, sah, dass links oben verrostete Gerätschaften hangen, eventuell Überbleibsel aus Tagen des Eisenbahnbetriebes. Das Gewölbe in Köln liegt unter den Schienen.
»Wake up, wake up!«
Dann lief Dean Blunt über die Bühne, ganz in Schwarz, mit Cowboyhut, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Es war immer noch dunkel und regnete. Dean Blunt streifte über die Bühne, stellte sich manchmal direkt vor das Publikum und starrte über es hinweg. Dann trat er ans Mic, zögerte, wendete sich ab. So ging das. Er streunte herum, hin- und hergerissen, als befände er sich im Kampf mit dem Mikrofon, dem er sich verschließen will und gleichzeitig das brennende Bedürfnis in sich trägt alles loszuwerden. Als wäre das Mic eine Bar, als würde Dean Blunt hadern: Gehe ich in diese Bar, um der Dame meine Liebe zu gestehen, oder nicht? Oder ein Blutbad anzurichten. Die Fähigkeit zu beidem strahlte er aus. Dann endlich! Streicher! Dean Blunt begann zu singen. Das eigentliche Erlebnis, der Auftritt hatte aber schon zehn Minuten früher angefangen. Nur mit dieser geschärften Wahrnehmung konnte das Folgende wirken.
»The Redeemer« war nicht gekommen, um das Publikum zu erlösen. Eher forderte er von ihm etwas ein. Dieses Konzert einfach zu konsumieren, war unmöglich. »Wake up, wake up!« war Blunts Mantra und seine abschließenden Worte. Jeder Einzelne musste wach sein, um die Leerstellen auszufüllen und um die Zeit, in der Dean Blunt kiffend über die Bühne flanierte, bewusst als Teil des Ganzes wahrzunehmen. Nicht denken, »komm, spiel endlich ›Papi‹«. Aber jede Wahrnehmung für sich. Deshalb die Ich-Perspektive. Es schien als versuchte das Publikum zu begreifen, wen es da eigentlich sah bzw. nicht sah. Und gleichzeitig schien Dean Blunt, rastlos auf der Bühne, eine Antwort darauf zu suchen: Wer sind die, für die ich hier singe? Was ist das überhaupt, ein Konzert? Wo kommt diese Rollenverteilung her? Betrachter und der Betrachtete. Wer hier wen betrachtete, war nicht klar. Und so muss am Ende die Frage nicht lauten, ob Dean Blunt anwesend war. Sondern ob ich anwesend war. Anwesend, um mitzuwirken an diesem Abend, nicht um einen intellektuellen Drang zu befriedigen, nicht um die Karte zu Hause an die Pinnwand zu hängen, sondern um einzufühlen und aufzufüllen. Die eigene Empfindung erst machte dieses Konzert, oder was es auch war, zu etwas Abgeschlossenem. Wenn ich nicht dort gewesen wäre, wäre auch Dean Blunt nicht dort gewesen.