Werktags um 11 Uhr, ein Zoom-Fenster öffnet sich, Håvard Volden grüßt freundlich vor unverputzter Wand mit Pflanze. »Now, where is Jenny?«, spricht er meine Gedanken aus, und erklärt dann: Jenny Hval ist in ihrem Studio in der Osloer Innenstadt, er passt zuhause auf den gemeinsamen Hund auf. Gleich darauf schaltet sich auch seine Lebens- und Arbeitspartnerin zu, die Lost Girls sind zum Interview bereit. Mit
»Selvutsletter« hat das norwegische Duo bei Smalltown Supersound gerade sein zweites Studioalbum vorgelegt, auf dem die verworrene Offenheit des Vorgängers lediglich dadurch begrenzt wurde, dass diesmal kein Track die 10-Minuten-Grenze knackt. Zwischen mikrotonalen Synths und lässigen Grunge-Riffs tritt Hvals lyrische Reflektionskraft zugleich eingängiger und vielgestaltiger zutage: hier verweist subtile Finsternis auf ihre Goth-Vergangenheit oder eine sonstige Abgebrühtheit, dort lassen ein unbearbeitetes Brechen der Stimme oder lichtstrahlene Orgeltöne Nahbarkeit entstehen.
»Selvutsletter« ist ein Album voll Musik, die Bewegung wahrnimmt, die beschwören kann, die klingt wie eine aerodynamisch berechenbare Zwischendimension. Ziemlich sinnhaft also, dass Hval und Volden in einer Art Stille-Post-Spiel in unterschiedlichen Räumen komponieren, zwischen den Realitäten, wenn man so will. Dass man sich dafür nicht bewaffnen muss, oder wenn, nur mit Humor, das wird sich gleich im Interview herausstellen.
Jenny, du bist auch Schriftstellerin. Dein Buch »Gott hassen« ist dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Die Protagonistin reflektiert ihre Jugend in der Black-Metal-Szene und darüber, eine Band zu gründen, beispielsweise so: »Ich habe keine Lust mehr, mich selbst zu repräsentieren. (…) Ich habe keine Lust mehr, der Subjektivität nachzujagen, nach etwas zu suchen, das nur ich bin, ohne Kontext, Umgebungen und Hintergrund. (…) Ich will partizipieren, an einem Chaos aus kollektiver Energie. Ich will Teil einer Band sein.« Wie sehr trifft diese Beschreibung auf das Duo Lost Girls zu?
Jenny Hval: Das ist eine Beschreibung von etwas, was ich ziemlich allgemeingültig finde. Wahrscheinlich gehe ich mein Soloprojekt genauso an, weil ich es nicht interessant finde, sich allein im Universum zu fühlen und darüber zu reflektieren. Das ist nicht meine Definition von Kunst. Selbst wenn man alleine etwas erschafft, kann man sich dabei fühlen, als wäre man ein Teil von etwas. Aber ich denke, dass das Zitat durchaus eine Beschreibung für Lost Girls ist. Man könnte das Wort »lost« in unserem Bandnamen so definieren, dass wir uns im Schaffen mit anderen verlieren. Auch wenn wir nur ein Duo sind, ist das definitiv der Kern dieses Projekts.
Eine weitere Parallele zum Buch ist, dass auch eurer Musik eine Form von Protest anhaftet. Ihr scheint gängige Songstrukturen und Produktionsweisen nicht so gern zu mögen. In dem Song »Drive« von 2018 mimst du in den Vocals ein verzweifeltes Weinen, was wie ein Protest dagegen wirkt, immer stark sein zu müssen. Diese Art von feministischer Anti-Haltung ist typisch für deine Solo-Arbeiten. Wie wichtig ist sie für Lost Girls?
Jenny Hval: Das ist für Lost Girls nicht weniger wichtig als für mein Solo-Projekt. Es drückt sich nur anders aus, weil es in einer Zusammenarbeit passiert. Ich denke viel nach über Verarbeitungsweisen, den Einsatz von Autotune oder Phrasen in der radiofreundlichen Popmusik. Und in letzter Zeit habe ich mir viele Marvel-Filme angesehen, weil wir Covid hatten. Diese Art von Unterhaltung ist genau wie Popmusik: alles dreht sich um Superhelden und superstarke Kämpfer. Es geht im Pop so viel um Bewaffnung, und ich denke, dass alles, was ich mache, und definitiv mit Lost Girls, versucht, sich auf andere Weise mit dem menschlichen Körper und der menschlichen Erfahrung auseinanderzusetzen. Die Arbeit mit dir, Håvard, war sehr interessant in Bezug darauf, gegen gängige Pop-Strukturen vorzugehen, aber dennoch etwas zu erschaffen, das für mich sehr eingängig ist.
Håvard Volden: Normalerweise versuche ich nicht absichtlich, Dinge oder Strukturen zu zerstören. Es passiert einfach. Die Art und Weise, wie wir komponieren, versucht nicht, dieses oder jenes zu machen. Es ist einfach ein Fluss. Und ich schätze, so schreibst du auch deine Texte?
JH: Ja, ich mag es nicht, wenn ich weiß, was passiert. Ich entscheide nicht gerne, wie ich etwas schreibe oder worum es geht, bevor ich schreibe. Das wäre so, als würde man sich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereiten. Aber Musik ist kein Vorstellungsgespräch.
HV: Für die meisten Songs auf dem Album habe ich Jenny ein paar Ideen oder Akkorde geschickt, und sie hat etwas komplett anderes daraus gemacht. Für mich ist das sehr interessant, weil es mich an gedankliche Orte bringt, die mir selbst nie einfallen würden.
JH: Das Gleiche gilt für dich. Die Dinge, die du mir schickst sind in der Regel Dinge, auf die ich nie gekommen wäre.
Das klingt, als würde Lost Girls nur als Duo aus euch beiden funktionieren?
JH: Wir haben Projekte mit anderen gemacht und Leute sind auf andere Weise einbezogen, aber nicht unbedingt in den Prozess, in dem eine Person ein Musikstück schickt und die andere Person es dann umstrukturiert. Zu viele Köche können da ja leicht den Brei verderben. Später erarbeiten wir die Songs dann auch gemeinsam, aber vorher braucht jeder für sich den Raum. Wenn du zum Beispiel einen Drumbeat machst, verstehe ich ihn nie.
HV: Ich auch nicht.
JH: Aber ich denke jedes Mal, du würdest ihn genau verstehen. Und ich habe keinen Plan, was da los ist. Aber dann lege ich etwas anderes darüber. Ich mache einen anderen Beat oder nehme ein Sample oder sowas, und zusammen ergibt das einen wirklich interessanten Effekt, den wir in einem Raum zusammen nicht hinbekommen würden. Wir brauchen also diese Art von Stille-Post-Spiel, um auf Ideen zu kommen.
Vielleicht wirkt eure Musik deshalb wie zwischen Raum und Zeit. Ich musste an die Magie denken, die ein Ort haben kann, an dem man in der Vergangenheit etwas erlebt hat, wenn man später an ihn zurückkehrt. Aber um diese Aura zu spüren, muss man zu dem, was dort passiert ist, einen gewissen Abstand haben. Müsst ihr einen gedanklichen Abstand zu Dingen oder Orten herstellen, um an so zwischenweltliche musikalische Orte zu gelangen?
JH: Ich sehe das wahrscheinlich von einer anderen Seite. Vor allem bei diesem Album hatte ich das Gefühl, dass ich durch einige Erinnerungen gegangen bin, die ich schon fast vergessen hatte, die aber diese Magie hatten, von der du sprichst. Wie in Filmen, wenn die Figuren Flashbacks haben und alles in ein Glühen oder in so einen Filter mit verschwommenen Rändern gelegt ist, um zu signalisieren: jetzt sind wir in der Vergangenheit. Was ich am Schreiben im Allgemeinen liebe, ist, dass man sich nicht darauf beschränken muss, genau zu beschreiben, was 1996 passiert ist. Es kann eine poetische Rückbesinnung auf etwas sein, das ich vielleicht erlebt habe oder über das ich vielleicht nur gelesen habe, aber das für mich diese Anziehungskraft hat. Bei einigen der Gitarrenlinien, die ich schrieb, erinnerte ich mich an Schlüsselmomente meiner Jugend: das Internet und die Mystik, nicht ganz zu verstehen, welche Art von Kommunikation ich mit anderen Menschen im Internet hatte. Zum ersten Mal in einer Band zu spielen, der Sound von Hollywood-Filmen. All das landete auf dem Album.
HV: Ich habe darüber wahrscheinlich nicht so nachgedacht, eher über den Klang bestimmter Dinge. Bei dem Song »With the Other Hand« habe ich immer Leonard Cohens Gitarre gehört. Oder andere Dinge wie die Orgelklänge können mich an ganz bestimmte Orte führen.
JH: Damals wusste ich noch nicht, dass du an Leonard Cohen gedacht hast. Aber wenn ich mir jetzt einen der Strumming-Songs von Leonard Cohen anhöre, erinnert mich das daran, wie du in dem Track spielst. Als würde Leonard Cohen in den 80ern bei Sonic Youth spielen.
HV: Es ist lustig, denn als ich die Akkorde geschrieben habe, habe ich eine männliche Stimme dazu gehört. Aber dann hab ich es dir geschickt, und du hast es zurückgeschickt, und plötzlich war es nicht mehr Leonard Cohen. Also war ich ein bisschen enttäuscht und es hat eine Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnen konnte.
»Es geht darum, auf der Bühne zu stehen und zu merken, dass man sich genau zu den Leuten hingezogen fühlt, die dich nicht verstehen.«
Jenny Hval
Der Songtitel »Jeg slutter meg selv« bedeutet »Ich stoppe mich selbst« und doch klingt der Song am wenigsten nach Stillstand. Es ist eher ein hochkochender Dance-Track, mit einer sehr eingängigen Hook auf seinem Höhepunkt. Aber anstatt diese Melodie zu wiederholen, steuert der Song danach auf sein Ende zu. Bezieht sich der Titel darauf, oder auf etwas anderes?
JH: Der Song handelt davon, dass man sich zum falschen Publikum hingezogen fühlt. 2015 spielten wir beide für mein Solo-Projekt und es war unsere erste Support-Tour mit St. Vincent. Am ersten Abend hatten wir die Filmemacherin Zia Anger dabei, sie hat auf der Bühne eine Banane gegessen. Einige der männlichen Fans fingen an, zu rufen: »Ooh, sexy«. Daraufhin hat sie die Bananenstücke ausgespuckt, und einige Mädchen schrien: »Yeah!«. Danach waren ein paar Fans ziemlich verwirrt. Zia sagte später, dass sie dabei diesen Satz im Kopf hatte: »Sorry, ich werde mich für euch ändern«, als eine sarkastische Art und Weise, auf Leute zuzugehen, die nicht zu schätzen wissen oder nicht verstehen, was man tut. Es ist eine sehr absurde Aussage, aber ich liebe diese Zeile, und ich glaube, in diesem Song geht es genau darum. Es geht darum, auf der Bühne zu stehen und zu merken, dass man sich genau zu den Leuten hingezogen fühlt, die dich nicht verstehen. Es gibt immer einen Teil von dir, der sich dagegen wehren will, aber gleichzeitig willst du dich unbedingt auf Leute einlassen, die dich nicht mögen. Warum ist das so? Ich habe keine Antwort darauf, aber das ist definitiv ein Teil der Kommunikation, und es ist definitiv ein Teil meiner Motivation, aufzutreten.
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In einem Gespräch mit dem Interview-Magazin anlässlich eurer ersten Veröffentlichung 2018 habt ihr einen Soundtrack für eure gemeinsame Beerdigung zusammengestellt. Da das jetzt schon erledigt ist: Wie werdet ihr die Veröffentlichung eures zweiten Albums feiern?
JH: Ich denke, ich werde mit dem Hund einen langen Spaziergang durch den Wald machen.
HV: Wir feiern das Album dann mit unserem Konzerten im November.
JH: Das könnte unsere gemeinsame Beerdigung werden.
HV: Ja, vielleicht.
Das hoffe ich nicht. Aber ich wollte fragen, ob diese Art von schwarzem Humor ein Hauptbestandteil eurer Zusammenarbeit ist?
JH: Jetzt muss ich an unsere Kostüme denken. Håvard trägt den alten Anzug von seiner Konfirmation. Wir haben diesen Anzug von seinem protestantischen Erwachsenwerden 1995 gefunden, und beschlossen, dass er ihn auf der Bühne tragen muss. Ich habe keine vergleichbare Kleidung, weil ich nie erwachsen geworden bin. In unserer Live-Performance steckt also eine Menge Humor. Wir spielen auch ziemlich humorvoll, viele der Geräusche, die wir machen, sind sehr doof und lachhaft.
HV: Auch das Setup. Wir haben die Tische eher wie in einem Büro aufgestellt, mit den Computern zum Publikum hin, und wir sitzen nebeneinander.
JH: Es ist, als würde das Publikum für uns vorsprechen, oder sie sind in einer Lobby und wir sind die Sekretärinnen oder die Pförtner.
HV: Als Jennys Manager uns sah, wollte er uns so einen alten Bleistiftanspitzer und eine Rollkartei kaufen. Elektronische Musiker sind halt immer die Tischtypen. Sie sehen immer so aus, als würden sie E-Mails checken, was sie manchmal auch tun. Wir wollten diese Idee umdrehen.
Ich glaube, das Gute am Älterwerden als Künstler ist Bescheidenheit, also die Erkenntnis, dass wir nicht wirklich gebraucht werden.
Jenny Hval
Der Albumtitel »Selvutsletter« ist ein Wort, das ihr erfunden habt. Ihr übersetzt es mit »sich selbst zurücknehmende Person« und beschreibt es als jemanden, der »sich entrümpelt«. Beschreibt das einen Prozess, in dem man einsamer wird oder sich mehr mit anderen Menschen verbindet?
HV: Es bedeutet, älter und einsamer zu werden. Wir haben jetzt einen Hund, um den wir uns kümmern müssen. Da bleibt nicht viel Zeit für andere Menschen.
JH: Ich glaube, das Gute am Älterwerden als Künstler ist Bescheidenheit, also die Erkenntnis, dass wir nicht wirklich gebraucht werden. Wir machen unser Ding, aber wir sind nicht superwichtig. Was wichtig ist, sind alle anderen. Es ist wie am Anfang unserer Unterhaltung, als wir darüber sprachen, einer Band beizutreten. Wenn man älter wird, wird man definitiv einsamer, weil man mehr zu tun hat. Aber man genießt es auch, sich in der Gemeinschaft zu verlieren, in dem Gefühl, dass alle großartige Arbeit leisten.