Review

Gökçen Kaynatan

Cehennem

Cacophonic • 2019

Parallel zum Revival der Wechselwirkungen zwischen anatolischem Pop und Rock und psychedelischer Hippie-Musik, das durch Reissues und Bands wie Altın Gün oder Derya Yildirim & Grup Şimşek angetrieben wird, rückt im Reissue-Business vermehrt die türkische Avantgarde in den Fokus. Der Produzent Gökçen Kaynatan war, anders als beispielsweise İlhan Mimaroǧlu, ein Name, der bis vor Kurzem noch unter den Tisch fiel. 2017 allerdings veröffentlichte das Label Finders Keepers eine Sammlung seiner Kompositionen und legt nun auf dem Sublabel Cacophonic das Album »Cehennem« nach. Die drei bisher unveröffentlichten Stücke entstanden in einer gleichermaßen aufregenden wie niederschmetternden Phase in Kaynatans Leben: Einerseits entdeckte er voller Aufregung die Möglichkeiten des EMS Synthi AKS-Synthesizers, andererseits plagten ihn gesundheitliche Probleme – ein Hirntumor, wie sich später herausstellen sollte. Es verwundert daher kaum, dass »Cehennem« mit »Hölle« zu übersetzen ist. Nachdem er 1972 in Köln – unweit von der Wirkungsstätte Kraftwerks und anderen Synthie-Pionieren des Krautrocks – sein Handwerk am tragbaren Modular-System erlernt hatte, benutzte er es 1973-1975, um seinen Leidensweg zu vertonen. Deswegen geht den fiepsigen, dröhnenden und bisweilen sehr harschen Klängen auch die Verträumtheit der Berliner Schule und anderen Zeitgenoss*innen ab, deshalb die beklemmende Atmosphäre des rund 28 Minuten langen Albums. »Cehennem« agierte bisweilen wie auf dem Titeltrack nahe am Noise und Dungeon Synth oder formuliert, wie im zweiten Stück »Anjiyo«, die muffigen Rhythmen von Industrial vor. Auf »Cehennem Yolu« (»Der Weg zur Hölle«) breitet sich Kaynatan dann über fast 14 Minuten aus und arbeitet sich durch die verschiedenen Möglichkeiten seines Synthesizers, lässt aber noch Elemente klassischer Komposition erahnen. Eine unheimliche, eindringliche Synthese in jeglicher Hinsicht, und eine wundervolle Wiederentdeckung allemal.