Aigners Inventur – Januar & Februar 2022

27.01.2022
Kommt mit zwei Zentimeter Hustensaft und Sägespänen auf seiner Zungenspitze aus dem alten Jahr gekrochen und findet direkt das beste Rap-Album des neuen Jahres vor: Aigners Inventur. Willkommen zur ersten Ausgabe im neuen Jahr.
OG Keemo
Mann Beisst Hund (2022)
ab 28.99€

Das Jahr war keine vier Wochen alt und schon war die Messe in Sachen Deutschrap für 2022 gelesen. Dass OG Keemo mit »Mann Beißt Hund« das narrativ konkurrenzloseste Deutschrap-Album der Geschichte machen würde, ließ sich nach den wenigen vorab veröffentlichten Tracks bereits prophezeien, die Selbstverständlichkeit aber mit der Keemo hier mindestens drei Perspektiven zu einem Block-Prisma zusammenkittet, in dem es weder verlässliche Erzähler noch sozialpädagogische Well-Actually-s gibt, ist so aber auch international beinahe einzigartig. Natürlich muss an dieser Stelle irgendwo der abgelehnte Kendrick-Vergleich kommen, aber allein mit welcher - Vorsicht, Klischee - cineastischen Detailverliebtheit Keemo schon auf dem Opener jeden Quadratzentimeter seines Viertels vermisst, kennt man so eigentlich auch nur von Alben der Größenordnung »Illmatic« oder »The Infamous«. Und das sind nur die ersten drei Minuten. Schluck.

Florian Aigner
Auch nicht ganz absurd wäre Earl Sweatshirt als Referenz, zumindest was die Unangestrengtheit der lyrischen Abgründe angeht, wobei Earl nach wie vor am liebsten mit lyrischen Ambivalenzen und abstrakterer Poesie arbeitet, verglichen mit Keemos zumindest in der Wortwahl recht geradem Schreibstil. »SICK!« ist das leichtherzigste Album des notorisch miesepetrigen Neuvaters, die Rückkehr nach LA hört man stellenweise der Beat-Selektion an. Natürlich bleibt Earl aber auch hier der König des Morasts, manchmal klingt er immer noch als lägen zwei Zentimeter Hustensaft mit Sägespännen auf seiner Zungenspitze, aber es gibt hier auch Momente fast zelebratorischer Leichtigkeit. Wie immer bei einem Earl Album: es wird nicht viel besseres dieses Jahr veröffentlicht werden.

Lil Baby & Lil Durk
The Voice Of The Heroes
Capitol • 2022 • ab 36.99€
Während Earl- oder Keemo-Veröffentlichungen einen immer noch ehrfurchtsvoll innehalten lassen, liefern Lil Baby und Lil Durk einfach weiter im Akkord ab. »The Voice Of Heroes« ist natürlich wieder algorithmisch optimierter State Of The Art Rap für die Spotify-Playlisten, mit blitzenden Hi-Hats, voluminösen Low Ends und mindestens einem dutzend infektiösen Hooks aus dem Lil Baby Automaten. Stagnation auf okaystem Level.

The Weeknd
Dawn FM
Republic • 2022 • ab 33.99€
Glückwusch an alle, die vor zehn Jahren darauf gewettet haben, dass The Weeknd und Oneohtrix Point Never 2022 selbstverständlich auf Alben neben Max Martin, Calvin Harris und der Swedish House Mafia koexistieren würden, die Quote dürfte bei 1:50.000 gelegen haben. »Dawn FM« ist auch deswegen das okayste Weeknd Album seit der intialen Trilogie, weil hier so viele größenwahnsinnige Billboard Pop Momente neben nerdigem Scheiß stehen – das gesamte Album erinnert in seiner Vermessenheit auf gute Art und Weise an die Reagan-Ära.

Arca
KiCk i Black Vinyl Edition
XL • 2020 • ab 30.99€
Vielleicht ist jetzt auch ein guter Zeitpunkt um auf den ersten Superbowl-Auftritt von Arca zu setzen, zwischen all diesen sperrigen, hypermodernen Passagen in der monströsen Kick-Reihe schlummern jedenfalls mindestens eine handvoll Welthits. Arca dürfte hiermit auch endgültig das Zepter von Rosalia übernommen haben, der Reggaeton-Part dieses uncheckbaren Tetraptychons KICK ii / KicK iii / kick iiii / kiCK iiiii ist das verschwitzte Pop-Ausrufezeichen einer beispiellosen Karriere. Davor und danach: Chaos, Harmonie, Identität, Sex, Selbstaffirmation: parallel, sukzessiv, laut.

Bonobo
Fragments Black Vinyl Edition
Ninja Tune • 2022 • ab 27.99€
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Well, von Arca zu Bonobo ist nun wirklich die am tiefsten hängende Frucht überhaupt und ich kann mich kaum mehr erinnern wie viele selbstgerechte Bonobo-Verrisse ich an dieser Stelle schon geschrieben habe, aber hey: viele Menschen freuen sich über Bonobo-Alben. Ich nicht. Aber wie ein Haarschnitt oder dreilagiges Klopapier bleiben diese süßlichen Melodien offensichtlich systemrelevant.

Burial
Antidawn
Hyperdub • 2022 • ab 22.99€

Ach und komm: ja, Burial macht viel bessere, weil tief unter der Oberfläche brodelnde Musik, aber sich hinzustellen und mal wieder eine neue Burial als emotionale Großtat zu feiern (und gleichzeitig auf Bonobo einzuprügeln), fühlt sich auch nicht richtig an. Also an dieser Stelle nur die übliche PSA: die neuen vierzig Minuten sind natürlich nicht so gut wie die ersten beiden Alben, aber machen trotzdem, wie immer, etwas mit einem. »Antidawn« ist Burials Ambientplatte, Drum-Programming lässt sich höchstens erahnen und ja, mich hat das abgeholt.

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Jake Muir
Mana
Ilian Tape • 2021 • ab 17.99€
Wobei in Sachen Ambient und Flächen das neue Album von Jake Muir auf Ilian Tape mit seiner Illbient und Dub verpflichtenden Schlonzigkeit eigentlich das größere Ereignis gewesen ist. Schon im November veröffentlicht, aber auch mit zwei Monaten Verspätung sollte »Mana« hier noch Erwähnung finden.

SKY H1
Azure
Ad 93 • 2021 • ab 21.99€
Mit einer größeren Farbpalette hantiert Sky H1 auf ihrem Albumdebüt für Ad93, »Azure« kombiniert cleanen Trip Hop mit greller PAN-Avantgarde und neo-klassischer Dramatik. Von mir zunächst vier Wochen nach dem ersten Hören als arg trendy wegignoriert, ist diese Platte mittlerweile zu einem Januar-Staple geworden, vielleicht auch weil die großen Emotionen nicht unnötig weg-ironsiert werden, sondern mit aufrichtigem Pathos durch familiäres UK-Territorium stapfen.

Tor Lundvall
Beatiful Illusions Black Vinyl Edition
Dais • 2021 • ab 23.99€
Kollege Kristoffer Cornils schrieb neulich wie prima sich Tor Lundvalls neues Album eignet, um in der Frühe auf einen zugeschneiten Balkon zu starren und mit noch zugeschwollenen Augen den Kaffeepott auf dem Herd zu vergessen. »Beautiful Illusions« ist eines der nacktesten Alben des New Yorkers, in einem Oeuvre von mittlerweile 14 will das was heißen. Verletzlicher Noir Pop, null abgeklärt und so mit sich hadernd, dass selbst die kitschigeren Momente gänzlich unpeinlich sind, re: Schnee/Kaffee.

HTRK
Rhinestones
N&J Blueberries • 2021 • ab 25.99€
Emotional auch entblößt wie nie: das neue HTRK Album. Jonnine Standish und Nigel Yang schrumpfen sich auf »Rhinestones« auch in der Instrumentierung weitgehend zum Duo, nur noch gelegentlich finden sich 808 und größere Synth-Flächen, »Rhinestones« ist ein pluckerndes, gedubbtes Gitarrenalbum, in dem Standishs Vocals multidimensional dominieren und trotzdem so intim wirken wie ein Flüstern. Karrierehighlight einer der konstantesten Bands der letzten zehn Jahre.

Dali Muru & the Polyphonic Swarm
Dali Muru & the Polyphonic Swarm
STROOM〰 • 2022 • ab 23.99€

Dalia Neis und Enir Da haben als Fith angefangen, hören nun aber für ihr Album auf STROOM〰 auf den Namen Dali Muru & the Polyphonic Swarm. Arg viel hat sich nicht geändert: Das ist immer noch Peak-SDA-Weirdo-Pop in Moll, auf dem Dalia Neis Vocals in ihrer distanzierten Coolness durch reduzierte, Tolouse Low Trax inspirierte Beats und krautige Kautzigkeiten geistern, in bester Avant-Wave-Tradition. Die Formel mag mittlerweile bekannt sein, aber ein Spitzenalbum ist das trotzdem.

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Montel Palmer
Catastropheland
Planet Rescue • 2022 • ab 17.99€
Auf Grund persönlicher Befangenheit direkt der Disclaimer: vielleicht ist das Montel Palmer Album gar nicht so gut wie ich hier schreibe und ich auch nur hirngewäscht von zu vielen Prä-Corona-Gigs des Kölner Trios, aber ich bilde mir schon ein auch ohne private Verblendung sagen zu können, dass »Catastropheland« nicht nur die Dynamik des mittlerweile zum Quartett erweiterten Live-Jam-Projekts perfekt einfängt, sondern auch sonst kaum jemand so nonchalant Manchester, Kingston und Berlin zubetoniert wie das hier gemacht wird. RIYL Seekersinternational, Shotta Tapes, Tax Free.

Immer noch keinerlei Hintergrundinformationen habe ich zu Civilistjävel!, die/der (?) nach wie vor über Low Company mit schöner Regelmäßigkeit spröde LPs ohne Info in die Plattenläden tragen, auf denen (Dub) Techno aus Vainio’scher Perspektive gedacht, aber doch ganz anders umgesetzt wird. Hymnisch ist auch hier nichts, aber die üblichenTemperaturmetaphern schlagen fehl. Nummer »4/5« nistet sich unbemerkt neuronal irgendwo im hintersten Lappen ein und weigert sich Platz machen.

Huerco S
Plonk
Incienso • 2022 • ab 32.99€

Ich finde »Plonk« ist der deskriptivste Plattentitel seit Bleep Techno gecoint wurde. Die meisten der vielen, sehr vielen Huerco S Sideprojects waahuhbrrrrmmmten eher, »Plonk« plonkt aber direkt in der ersten Hälfte und kreiiert mal eben nebenbei die Weightless Version von Drill. Danach wird's etwas sphärischer und absehbarer, aber bei diesem dubbigen Ambient-Zeug macht Huerco S ja trotzdem keiner was vor. Wenn jetzt noch jemand anmerkt, dass zumindest der Closer auch auf dem Bonobo-Album hätte sein können, dürfte ich final als Heuchler enttarnt sein.

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