Das vergangene halbe Jahr hat gefühlt ganze fünf gedauert. Ein nie endender Winter, quälende Isolation. Und jetzt? Stehen wir wie ein Kleinkind vor dem Freibadbecken und stippen den großen Zeh ins Wasser, um vorzufühlen. Denn der Stillstand weicht, es kommt Bewegung rein. Hoffen wir nur, dass die nicht die Form eines Wettlaufs gegen die Zeit annimmt – die Delta-Variante hat Großbritannien schon in die Knie gezwungen – und wir in der Flucht nach vorne nicht das Geschehene aus den Augen verlieren. Fast 100.000 Todesfälle hierzulande, über eine halbe Millionen in den USA und in Brasilien, in Indien wird weiterhin gezählt. Also: Wirklich alles nochmal gut oder gar zu Ende gegangen?
Immerhin eins kann und sollte uns dieses verfluchte halbe Jahr doch mitgegeben haben: Dass da draußen noch so viele andere sind und dass es ihnen unter gänzlich anderen Umständen vielleicht wohl gar nicht so anders geht als uns. Das hat uns eben auch die Musik gelehrt. 50 Schallplatten haben wir ausgewählt, die uns im tiefsten Abgrund freundlich zugewunken haben und die uns immer wieder daran erinnerten, dass das, was uns über alle ausgedachten Ländergrenzen hinweg vereint, genau deswegen erhaltenswert ist, weil es bei Musik nie um Musik, sondern immer nur um die Menschen dahinter geht. Ihr Leiden, ihre Freude, ihre Ideen und Visionen.
Neben einigen Reissues von bahnbrechenden Alben – Stella Chiweshe, Sun Ra, Coil, Arovane! – verzeichnet die folgende Liste mit Vinyl-Veröffentlichungen aus der ersten Hälfte dieses Jahres dann auch beobachtende Rundumschläge und Weltvermessungen im Kleinen wie im Großen. Ob die nun von Haftbefehl oder Roc Marciano radikal subjektiviert, von einer Loraine James abstrahiert oder von Dry Cleaning ausgesprochen werden: Vermittelt wird in jedem Fall. Zwischen Lagos und Berlin dank Emeka Ogboh, zwischen Stasis und Fortschritt bei den Lost Girls oder zwischen Jazz und Orchester wie bei Floating Points und Pharoah Sanders, die einander im Orchestergraben trafen.
Und es werden auch Perspektiven geschaffen, klar. Zukunft ist zu wittern. Smerz dachten Pop nochmal grundlegend neu, Merope Volksmusik. Was DJ Black Low mit Amapiano, Zuli mit Mahraganat, Al Wootton mit Dub und Jungle oder Scotch Rolex und die Nyege-Nyege-Crew mit Bassmusik im Allgemeinen angestellt haben, haben wir immer noch nicht ganz begriffen. Weshalb hier und jetzt versprochen sein soll, dass wir deshalb umso genauer zuhören und wenn nötig auch die Ärmel hochkrempeln werden. Weil dahinter Menschen stehen, die wie International Music ihre Ententräume träumen und das auch weiterhin tun sollen.
Die große Veränderung hat gerade erst begonnen und wir sind alle mittendrin. Treffpunkt ist der Plattenspieler. Aber vorher noch geht’s mit einem steilen Köpper ins Wasser.
Pippo Kuhzart
In den USA ist John Prine eine Legende. Einer der größten Bluegrass-Gitarristen, einer der größten Folk-Country-Musiker überhaupt. Ein Held auch für Kurt Vile Ende 2019 hatte der Songwriter aus Philadelphia die Gelegenheit mit John Prine dessen Song »How Lucky« aufzunehmen. Da ahnte noch niemand, dass John Prine ein halbes Jahr später gestorben ist, SARS-CoV-2 war im Herzen Amerikas angekommen. Es war eine beseelte Aufnahme. Eine, die das Leben umarmt, ohne die Schattenseite auszublenden. Sie wird auf »Speed, Sound, Lonely KV – EP« gerahmt von vier Stücken, die bei einer Session 2016 entstanden sind und den exakt selben Geist atmen. Darunter ein Cover von John Prines »Speed of the Sound of Loneliness«. Sebastian Hinz
Erst der Bubble-Hype um Brannten Schnüre, der »Durchbruch« für Labels wie Vrystaete… warte, man muss es sagen, wie es ist: Die Etablierung von so etwas wie Lo-Fi-Doom-Kammer-Folk durch Kieran Sande hat dazu geführt, dass Monokultur mit »Ormens Väg« hier auftauchen und das skandniavische Platten plötzlich in London, Amsterdam, Ostende und Köln in aller Munde sind. K.P., was weiter im Osten geht, aber hier trifft diese angedubbte Müdigkeit voll den Nerv. Repress kommt im Herbst. Pippo Kuhzart